Einfach nur hier sitzen?

…Ich schiebe die unangenehm verschwitzte, männliche Gestalt erneut von mir weg und erkläre ihm, dass ich keinesfalls etwas mit ihm zu tun haben möchte, bevor ich mich in der Gemeinschaftsunterkunft umdrehe, um meine Klamotten für den Transport einzusammeln.

Während ich ihm den Rücken kehre, spüre ich, wie meine Schultern von zwei Händen gepackt und zurückgeschleudert werden. Nach Luft ringend versuche ich mich aus dem Klammergriff zu befreien und sehe dabei in ein fratzenhaftes Gesicht mit zahnlosem Lächeln, dessen Gestalt mir mit übel riechendem Mundgeruch immer näher kommt. Mit aller Kraft versuche ich dem Unbekannten auszuweichen, während ich ein mir bekanntes Geräusch bemerke…

Es ertönt der Klingelton des Weckers meines Mannes, welcher mich aus dieser frühmorgendlichen Albtraumszene erlöst. Ich wünsche ihm einen Guten Morgen und erzähle ihm in zwei kurzen Sätzen von meinen nächtlichen Ausflügen in die Unterwelt und bedanke mich heute ausnahmsweise für das Wecken zu dieser nachtschlafender Uhrzeit.

Mit dem Einzug in unser neues Schlafzimmer auf dem Dachboden änderte sich auch unser allgemeiner Tagesablauf, denn zeitgleich wechselte mein Mann von der Spät- zur Frühschicht, welches uns bildlich von Murmeltieren zu frühen Vögeln mutieren ließ.

Früher hätte ich jeden gesteinigt, der mich vor dem Sonnenaufgang wecken möchte. Doch seit einigen Wochen lerne ich die Vorteile neu kennen und lieben. Zu keiner Tageszeit herrscht diese absolute Stille im Haus und eines ist sicher – um diese Uhrzeit wird keiner von meinen Kindern auf der Matte stehen, um meinen ungestörten Kaffeegenuss zu unterbrechen.

Kurz nachdem der Herr des Hauses die Einfahrt verlässt, starte ich in den Tag. Zugegebenermaßen nutze ich diese kostbare Zeit noch nicht ausschließlich zum Schreiben meines Buches oder für Blogbeiträge, sondern hole versäumte Aufgaben nach, die schon länger für mein schlechtes Gewissen verantwortlich sind.

Dinge wie unsere Steuererklärung, Portfoliomappen erstellen, Rechnungen begleichen, sortieren und abheften und so weiter werden Stück für Stück erledigt und lassen mich von Tag zu Tag zufriedener werden. Es ist unglaublich, was in den letzten drei Monaten durch Umbau und Urlaub liegen blieb.

Derzeit bin ich weit von meinem eigenen Wohlfühlmodus entfernt, bin in meinem privaten Umfeld oft schlecht gelaunt und zickig und spüre die Auswirkungen unseres Arbeitsurlaubes deutlich. Vom Erholungswert der kurzen Woche am See ist leider nichts mehr übrig, aber es wird bestimmt wieder besser werden.

Ich tröste mich in solchen Lebensphasen damit, dass es vielen anderen genauso geht und das mein Jammern keinen Sinn macht, sondern andere eher nur herunterzieht. Und genau in diesem Stimmungstief sah ich mir kürzlich den deutschen Kinofilm „100 Dinge“ an.

Auch wenn die Handlungen oftmals sehr lustig, doch manchmal überzogen dargestellt wurden, so hat mich das Thema doch sehr tief berührt und nachdenklich gestimmt. Wer diesen Streifen noch nicht gesehen hat – es geht um unsere Konsumgesellschaft, um den Umgang mit unseren Dingen und sämtlichen Daten in social media Kanälen, um Nachhaltigkeit und um die zwischenmenschlichen Beziehungen, welche zwangsläufig dabei auf der Strecke bleiben.

Wann habe ich einfach nur still an einem Ort gesessen und zum Beispiel den Himmel betrachtet?

Ich meine nicht das kurzzeitige hinaufblicken, dessen Schönheit wahrnehmen, um zeitgleich schnell zum Handy zu greifen, diesen Anblick festzuhalten und nach Möglichkeit sofort bei Instagram zu posten oder doch mindestens in meine story einzustellen. Ich meine damit das echte und wirkliche wahrnehmen von Momenten. Ich bereue das kürzliche Ereignis des aufgehenden Blutmondes in unserem Kurzurlaub.

Ich hatte nichts besseres zu tun, als das Handy zu schnappen, die gemütliche Runde zu verlassen und zum See zu rennen, um eine Aufnahme zu ergattern, welche mit einem Weitwinkelobjektiv einer Kamera eine wesentlich bessere Qualität hergegeben hätte.

Ich habe nicht das seltene Naturschauspiel betrachtend genossen, sondern war die verbleibenden Minuten der Lichtspiele nur damit beschäftigt, es schnell im Netz einzustellen, damit andere es auch sehen dürfen. Kopfschüttelnd über mich selbst sitze ich nun da und denke nach.

In den letzten eineinhalb Jahren habe ich mich zu einer mal mehr, mal weniger Handy süchtigen Freizeitbloggerin entwickelt, die ihre Gedanken und Gefühle öffentlich ausbreitet, um zum Nachdenken und zur Selbstreflexion anzuregen.

Auf diese Weise kann ich dir, dem Leser(in) mitteilen, wie es mir geht, was mich gerade beschäftigt und was mich zum nachdenken anregt. Außerdem kann ich jeden liebgewonnenen Menschen aus meiner Vergangenheit, die/der sich dafür interessiert erreichen und bleibe zumindest einseitig mit ihnen in Verbindung. Ich füge häufig meine, mir wichtigen Aussagen erst am Ende des jeweiligen Beitrages ein, weil ich mir ziemlich sicher bin, das nur wenige, wirklich interessierte Leser bis zum Schluss dran bleiben.

Im Moment hinterfrage ich mich und meine Bloggertätigkeit ständig. Ich frage mich, ob es sinnvoll ist, was ich tue? Ich frage mich, ob ich dadurch wichtige Momente meines Umfeldes verpasse? Ich frage mich, ob es mir etwas bringt und was es mir nützt?

Das Schreiben an sich hilft mir, mich neu zu strukturieren, Erfahrungen aufzuarbeiten, mich zu erinnern, mich neu zu finden und wie im heutigen Text, mich wiederholt zu überprüfen.

Ich stelle fest, das meine Kritik gegenüber meiner Familie zum Thema Handyumgang kaum eine Wirkung zeigen, wenn ich es selbst derartig vorlebe, in dem ich nur die Hälfte mitbekomme, weil ich mal schnell noch eine story hochladen muss.

Heute komme ich zu dem Schluss, das ich mit den medialen Zeitfressern sparsamer umgehen muss.

Denn schließlich und letztendlich ist es nicht mein Job, mit dem ich meinen Lebensunterhalt verdiene, sondern jede Aktivität in dieser Richtung geht von meinem privaten Freizeitkonto ab. Nur vergesse ich diese Tatsache leider immer wieder.

Letztes Wochenende fuhren wir nach langer Zeit, als Familie mit dem Fahrrad ins Blaue und landeten an einem kleinen See.

Ich nahm mir fest vor, mich hundertprozentig auf meine Familie zu konzentrieren und alles liegen Gebliebene zu vergessen. Es dauerte lange, bis es mir gelang abzuschalten. Und hätte ich mich selbst gefilmt, wie ich so durch den Wald radele, hätte ich mich bei über diesen Anblick wohl sehr geschämt. Denn zu sehen war nur eine ständig meckernde Zicke gewesen, die es nicht auf die Reihe bekam, sich über den Augenblick zu freuen, den Ausflug zu genießen und das anfängliche Chaos vor dem Start des Ausfluges gelassen zu betrachten.

Es mussten erst zwei Stunden vergehen, bis ich runterkam, meine sogenannte innere Mitte fand und mich wirklich und ehrlich darüber freuen konnte im „Hier und Jetzt“ zu sein. Völlig bekloppt, wie ich finde!

Während ich nun einfach nur so da saß, auf den See hinaus blickte und meinen Lieben beim planschen zusah, stellte ich fest, das es mir unglaublich schwer fiel, keine Fotos zu machen.

Und was meint ihr, ist passiert?

Ich konnte es wieder nicht lassen, musste die sich spiegelnde Sonne im See festhalten, auch „gleich“ wieder in meine story hochladen und raubte mir selbst abermals jenen schönen Augenblick des Genießens.

Zusammenfassend liegt ein schönes Stück Arbeit vor mir, um wieder ein Normalmaß zum Umgang mit den sozialen Medien zu erreichen. Und vielleicht schaffe ich es dann auch irgendwann…

…einfach nur da zu sitzen…

um wie hier im Beitragsfoto, auf den See zu blicken, ohne meinen zu müssen, nebenbei noch etwas anderes zu tun.