Es ist Zeit…

Der heutige Beitrag muss unbedingt in meine Wohlfühl-Modus-Kategorie, denn den Wohlfühlfaktor meines Sohnes hatte ich wohl in den letzten Wochen übersehen. Ich beginne mit der Entstehung der Liebesbeziehung eines kleinen Jungen zur Musik…

Mit strahlenden Augen stand er vor dem riesengroßen, weiß glänzenden Flügel.

„Mami – schau mal. DEN WILL ICH!“

In dem Bewusstsein, das wir ihm diesen Wunsch nicht erfüllen werden, hakte ich nach und fragte ihn: „Würdest du gerne auf einem Klavier spielen wollen? Meinst du, das es dir Spaß machen würde?“ Seine Antwort schoss spontan aus ihm heraus, als ginge es um die Frage, ob er denn Lust zum Fußball spielen hätte.

„Ja – klar – Mama! Das ist toll. Darf ich mal auf die Tasten drücken?“

Diese Familienszene spielte sich vor fünfeinhalb Jahren ab. Sein Interesse für jenes wundervoll klingende Instrument war augenblicklich geboren.

Da es sich nun aber nicht mal eben um die Anschaffung einer Blockflöte handelte, überlegten wir noch eine Zeit lang, wie wir das gestemmt kriegen könnten und warteten gleichzeitig ab, ob sich dieser Wunsch wieder in Luft auflösen würde.

Bereits im Kindergarten klebte er im Alter von nicht mal zwei Jahren an den Erziehern, welche Gitarre spielten und unterstützte manch musikalische Projekte mit seiner kleinkindlichen Art, welche uns schmunzeln ließ.

Sein Wunsch blieb und wenn ich ehrlich bin, hoffte ich auch sehr darauf, denn er war der Einzige, der die musikalische Familientradition fortsetzten würde und dem ich es auch durchaus zutraute. Außerdem schwebte dieses Instrument auch hin und wieder in meinem Köpfchen herum.

Nach kurzer Zeit entschlossen wir uns für die Anschaffung und zogen gemeinsam los, um uns einige Exemplare anzusehen. Wie es denn dann so ist, blieb es nicht beim „Nur mal gucken!“ und ich unterschrieb einen Finanzierungskauf für das bald einziehende Familienschmuckstück.

Unser temperamentvolles Kind, welches meist nur im Schlaf herunterfahren konnte, durfte sich mit diesem Tag auf den Weg in die Welt der Klänge, Tonlagen und Melodien begeben und baute eine echte Beziehung dazu auf.

Vor allem mochte er seine erste Klavierlehrerin sehr, welche glücklicherweise ein feines Gespür im Umgang mit unserem Sohn an den Tag legte. Sie gestaltete den Unterricht absolut pädagogisch wertvoll und widersprach dem Bild einer typischen Klavierlehrerin.

Das Instrument musste nicht stur nach irgendeiner Klavierschule erlernt werden, sondern er hatte bereits als fünf und sechsjähriger Schüler ein gewisses Mitspracherecht bei der Musikauswahl.

Ich bin ihr heute noch dankbar für die Monate der spielerischen und phantasievollen Ausbildungsgestaltung, denn sie schaffte es, ihn über den gesamten Zeitraum ihrer Anwesenheit bei Laune zu halten und dadurch wuchs nicht nur seine Begeisterung, sondern in gewisser Weise auch er über sich selbst hinaus.

Leider zog sich diese Perle aus dem Unterrichtsgeschehen zurück und somit stand der erste von weiteren drei Lehrerwechsel an, welche von Seiten der Institution veranlasst wurden.

Neue Lehrkraft – neues Glück!

So lautete meine positiv gemeinte Aussage, um ihn nicht zu entmutigen. Mit der zweiten Lehrkraft durfte seine positive Entwicklung weitergehen. Durch sie wagte er sich mit Erfolg an Stücke heran, die vielleicht vom Lehrplan noch nicht dran gewesen wären.

Doch das entgegengebrachte Vertrauen und Zutrauen seiner Mentorin beflügelte ihn dermaßen, seinen Lieblingssong aus dem Film „Fluch der Karibik“ über Wochen hinweg einzustudieren, bis seine Finger über die Tasten flitzten. Er liebte es und strengte sich aus eigener Überzeugung an, weil er sein Ziel mit Spaß und Leichtigkeit verfolgen durfte.

Wir alle kennen die Phasen des Unwohlseins, der Müdigkeit und der Lustlosigkeit. Gerade wenn es darum geht, am Ball zu bleiben, kann das tägliche Üben schwer fallen.

Als seine Lust auf dieses Instrument sich für eine Weile verabschiedete, übernahm ich seinen Vertrag bis zum Schuljahresende, damit er nicht auf den hintersten Platz der Warteliste rutschten würde. Nach seiner Pause wollte er wieder „ran an den Speck“ und ich freute mich natürlich darüber.

Jedoch verfolgte uns irgendwie das „Lehrerwechselschicksal“, denn plötzlich verließ auch diese tolle Musikerin ihren Arbeitsort und ein spanischer Lehrer übernahm die Unterrichtseinheiten. Jedoch harmonierten die beiden nicht wirklich, so dass die Schule ihm eine erfahrende, Klavierlehrerin an die Seite stellte, welche schon viele Jahre für die Musikschule arbeitete.

Fortan wehte ein anderer Wind im Übungsraum. Nun durfte er erfahren, was es mit der geraden Körperhaltung, Anordnung der Finger und dem richtigen Abstand des Klavierhockers auf sich hat. Anfangs empfand ich es als angemessen, denn hier fehlte ihm tatsächlich einiges.

Zu spät bemerkte ich allerdings, das genau diese konsequente, starre Methodik des Unterrichtens bei meinem Ableger nach hinten losging. Ich nahm seine ersten Anzeichen nicht ernst und schickte ihn sogar mit vorhandenen Bauchschmerzen in die wöchentlichen Klavierstunden, weil ich annahm, das er einfach nur keine Lust hatte.

Natürlich spielte auch die Tatsache eine Rolle, das sein geliebtes Fußballhobby mit den Übungsstunden kollidierte und er auch aus diesem Grund der Musik weniger Aufmerksamkeit schenkte. Aber die eigentliche Ursache lag woanders.

Früher übernahm ich die Überzeugung meiner Eltern, dass eine Ausbildung bitter schmecken muss und dass diese Erfahrung zum Leben dazu gehört und uns prägt.

Heute vertrete ich die Ansicht, das wir in allem nur dann langfristig erfolgreich sein werden, wenn wir mit Spaß und Freude lernen dürfen. Wenn wir konstruktiv kritisiert werden, wenn wir ein ehrliches und aufrechtes Lob erhalten, wenn jemand an uns glaubt und uns in unserem Tun bestärkt und uns wertschätzt.

Das größte Glück erfahren wir in diesem Zusammenhang, wenn uns Persönlichkeiten unterrichten, die unser Interesse und unsere Neugier immer wieder aufs Neue wecken und uns gleichzeitig motivierend im jeweiligen Lernprozess begleiten können, auch wenn wir mal keinen Bock auf den Kram haben sollten.

Letztendlich glaube ich, das mein Sohn in den letzten Monaten mehr für mich den Unterricht besuchte, als das er es aus eigener Überzeugung tat. Nachdem ich mit meinem Mann unsere weitere Vorgehensweise besprochen hatte, teilten wir ihm kürzlich mit, das er ab sofort keine weiteren Pflichtstunden mehr absitzen müsse. Er sah uns mit offenem Mund an und im selben Moment flossen Tränen der Erleichterung über seine Wangen.

Diesen Augenblick werde ich nicht so schnell vergessen, denn ich spürte, wie sehr ich ihn all diese vergangenen Wochen zu etwas getrieben habe, worin er sich nicht mehr wohl fühlte.

Mit feuchten Augen umarmte ich ihn und versprach ihm, das ich ihn künftig nicht mehr überreden werde, etwas gegen seine eigene Überzeugung oder sein inneres Bauchgefühl zu unternehmen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für eine Pause.

Denn nun beginnt SEINE Zeit.

  • Zeit für seine Entwicklung
  • Zeit, sich selbst neu zu entdecken
  • Zeit für seine Veränderung
  • Zeit für neue Hobbys
  • Zeit für Freunde
  • Zeit für Beziehung

Zeit für seinen eigenen WOHLFÜHL-MODUS

 

Mein Sohn!

Ich möchte dir noch etwas mitteilen.

Du wirst vielleicht später, zu einem anderen Zeitpunkt, deine Liebe zur Musik neu entdecken. Ich bin davon überzeugt, denn sie steckt tief in dir drin und ist ein Teil von dir. Wie oder in welcher Form du sie ausleben wirst, wird sich zeigen, denn sie wird dich immer begleiten, dir Trost spenden, dich erfüllen, dich schweben oder dich austoben lassen.

Es ist gut so, wie es heute ist. Es ist der richtige Weg. Du entscheidest selbst, ob und wann es wieder so weit sein könnte.

Jetzt bist du dran! Die Pubertät hat bereits angeklopft und wird dich in allen Bereichen neu herausfordern.

Das wird aufregend und anstrengend zugleich. Wir werden uns sicher oft fetzen, aber wir werden dich trotz aller Querelen über alles lieben. Sei dir dessen immer bewusst!

Und verzeih mir, das ich dich gegen deinen Willen anschob und dich entgegen deine Empfindung weiter antrieb.

Für mich bist du ein großartiger Junge und ich bin heute schon gespannt, wohin deine Reise gehen wird….

In Liebe deine mum