Sie piekst mich. Sie zieht und schiebt an mir. Sie kann mich verletzen. Sie engt mich ein. Sie übt stetig sanften Druck aus. Sie raubt mir den Nerv!
Und würde es einen Beipackzettel für Zahnspangen geben, würde ich unter Nebenwirkungen folgenden Hinweis hinzufügen:
„Bedenken Sie eventuelle Auswirkungen und Reaktionen, welche durch unterbewusste Emotionen ausgelöst werden können.“
Seit einem viertel Jahr trage ich meine feste Zahnspange, mehr oder weniger geduldig und sie wird vermutlich noch weitere zwanzig Monate meine ständige Wegbegleiterin sein und mir immer wieder das Gefühl geben, das mit mir irgend etwas nicht stimmt.
Ich fällte diese Entscheidung freiwillig und in dem Bewusstsein, dass kein einfacher Weg vor mir liegen wird. Schließlich erwarten mich am Ende nicht nur reibungslos funktionierende Kauinstrumente, sondern auch ein Lächeln mit geraden Zähnen. Das hoffe ich zumindest.
Mir geht es nicht um die Beschreibung von Aspekten, Hintergründen und Auswirkungen zahnmedizinischer Behandlungsmethoden. Heute möchte ich auf die oben genannten Nebenwirkungen eingehen.
Es passt perfekt zu meinem Blogtitel, weil ich mich aktuell körperlich wirklich ZWISCHENDRIN befinde und mich diese Empfindung in meine Vergangenheit beamt und ganz nebenbei, auch meine Sichtweise auf das Verhalten meiner Kinder verändert.
Uns allen, die Kinder auf dem Weg der verschiedenen Entwicklungsstufen begleiten dürfen, sind grenzüberschreitenden Situationen nicht unbekannt, welche uns manchmal schier verzweifeln lassen. Ganz egal, ob es sich um unsere Töchter oder Söhne handelt, ob diese toben, treten, schreien, etwas durch die Gegend schmeißen, weinen oder sich beleidigt zurückziehen.
All diese Aktionen passieren aus einem natürlichen, inneren Antrieb. Wenn ich ehrlich bin, wirkten auf mich manche Aussetzer bisher eher übertrieben oder vielleicht sogar grundlos. Ich sah manchmal keine Notwendigkeit für lautstarkes Gebrüll und mein Verständnis für durch die Gegend fliegende, voll bepackte Rucksäcke hielt sich auch in Grenzen. Und ich hüpfte auch nicht vor Freude, wenn mein Gegenüber beleidigt abzog, die Tür hinter sich zuknallte und die Treppen nach oben trampelte, weil meine sorgfältig, formulierte Kritik trotzdem wieder in dessen falschen Hals rutschte.
Jede Persönlichkeit äußert innere Verzweiflungskämpfe auf eigene Art und Weise. Es handelt sich in den meisten Fällen um unsichtbare Entwicklungsschübe oder bestimmt auch um hormonelle Einflüsse. Ich spreche hier nicht die Phase der Pubertät an, sondern möchte versuchen, es ganzheitlich zu betrachten.
Wie ich euch bereits in anderen Beiträgen mitgeteilt habe, bin ich ein freiheitsliebender Mensch. Ich glaube, das viele unserer Eigenschaften, Neigungen und Talente angeboren sind. Und wenn ich so über meine eigene Kindheit nachdenke, fallen mir viele Momente ein, in denen mich meine Eltern im wahrsten Sinne des Wortes „wieder einfangen mussten“.
Meine Eltern legten großen Wert auf Eigenschaften wie, gehorsam sein, anderen Erwachsenen respektvoll begegnen, fleißig und strebsam durch die Schulzeit gehen und ein ordentliches, gepflegtes Auftreten ausstrahlen.
Mein liebstes Kinderbuch hieß „Die Struwwelliese“, welches die scheinbar großartige Verwandlung eines Mädchens aufzeigt, das am Ende wegen ihrer Veränderung zum pünktlichen, fleißigen, guten und lieben Kind bewundert wird.
Es gab sicherlich einen Grund dafür, mir dieses Buch immer und immer wieder vorzulesen und zeigte mir unterbewusst, wie wichtig es sein muss, sich anzupassen.
Meinen Eltern fiel es schwer, ihre Gefühle – also ihre Liebe – zu zeigen. Vermutlich auch deshalb, weil sie es selbst nicht anders erleben durften. Weil eben die Zeit eine andere gewesen ist, als heute. Weil Spaß und Spiel an zweiter oder vielleicht sogar letzter Stelle stand.
„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“
Dieser Leitsatz hat sich leider in mein Gedächtnis eingebrannt und schreit mich aus meinem Unterbewusstsein an, wenn ich meine Freizeitaktivitäten in Angriff nehmen möchte. Und wenn ich in Zukunft nichts ändere, wird er mich wahrscheinlich noch ewig verfolgen und weiterhin der Grund für meine innere Unzufriedenheit sein.
Disziplin ist notwendig, wenn ich meine selbst gesteckten Ziele erreichen möchte. Das bedeutet jedoch nicht, das immer alles in kürzester Zeit erledigt und perfekt sein muss, sondern heißt auch, das ich das Zeitfenster zu meiner eigenen Entlastung verändern darf.
Letzten Sonntag stand auf dem Kalender: 1. Advent. Ich bewundere alle, die rechtzeitig mit ihren Vorbereitungen fertig geworden sind, ihre wundervollen Adventsgestecke & Co. auf den sozialen Kanälen posten konnten und sich dafür bewundern ließen.
Gerade in dem Augenblick, als ich meinen aufkommenden Neid spürte, weil ich es eben mal wieder nicht pünktlich zum Termin schaffte, postete eine Freundin ein Foto, welches tausendmal mehr aussagt, als perfekt geschmückte Weihnachtsdekorationen.
Abgebildet war eine einfache Frühstücksdose mit Vanillekipferl, eine Tasse Kaffee und ein einziges Teelicht – nackt – und ohne alles. Und als Überschrift: Impressionen zum 1. Advent.
Dieser Post ließ mich entspannt lächeln und versetzte mich schnell wieder in den gewünschten, normalen Gemütszustand zurück. Er erinnerte mich an die Tatsache, das ich die sonntägliche, Nerven aufreibende Schmückaktion einfach lieber hätte verschieben sollen.
Und das ich MIR SELBST GEGENÜBER eingestehen darf:
Ich bin dieses Jahr nicht perfekt! Oder besser – ich bin nicht perfekt und ich muss es auch nicht sein!
Diesen Satz zu schreiben, bedeutet mir sehr viel. Denn in meiner Entwicklung zum erwachsenen Menschen signalisierten mir nahe stehende Personen lebensbegleitend, das ich viele Ecken und Kanten habe, die noch geschliffen werden müssten. Und zwar so lange, bis ich eben in die vorgegebene Form passe. Psychischer Druck durch ständige Vergleiche mit anderen, scheinbar besseren Personen, standen auf meiner Tagesordnung.
Und immer wieder hatte ich dieses Gefühl, das ich nicht richtig sei, so wie ich bin. In banalen Momenten der beschriebenen Weihnachtsvorbereitungen ertappe ich mich dabei, das ich mich wohl wieder beweisen müsse.
Warum und für wen denn?
Meinem absoluten Lieblingsmenschen, den ich meinen Mann nennen darf, ist es jedenfalls egal, wann unsere Wohnräume weihnachtlich dekoriert werden. Natürlich liebt er es aufgeräumt und stilvoll, so wie ich auch und ackert selbst genug dafür, jedoch findet er es zu Recht „zum davonlaufen“, wenn ich mich selbst dabei stresse, deswegen unleidlich durch die Gegend renne und womöglich meinen Unmut an anderen auslasse (an ihm – der gerade zufällig im Weg steht). 😉
Eigentlich dachte ich von mir, das ich derartige Wesenszüge mittlerweile im Griff hätte, stelle jedoch genau das Gegenteil fest. Denn alles, was aktuell mit Druck, einengen, zurechtweisen und anpassen zu tun hat, lässt mein inneres Kind explodieren. Dieses Gefühl, sich klein zu fühlen und sich wehren zu müssen, ist ständig präsent.
Bis ich dahinter gekommen bin, was mich eigentlich wirklich so dermaßen anfixt, hat es eine Weile gedauert. Meine Zahnspange zerrt, schiebt und drückt an mir. Sie löst genau jenes Gefühl in mir aus, was ich schon als Kind hasste. SIE ENGT MICH EIN! Sie lässt mich bildlich gesehen nicht so sein, wie ich bin.
Sie ist nicht Schuld an meinem Befinden, sondern weckt tief sitzende Kindheitsgefühle auf, welche ich zu lange verdrängt habe. Langsam, aber sicher betrachte ich sie nicht nur als medizinisches Hilfsmittel für meine Zähne, sondern als eine Art Therapie.
Sie zeigt mir, wer ich bin und wo sich meine seelischen Baustellen verstecken. Und was noch viel spannender ist – sie lässt mich die Emotionen anderer besser verstehen. Wir haben als Erwachsene weitgehend gelernt mit Situationen umzugehen, welche auf uns Druck ausüben.
Unsere Kinder sind noch auf dem Weg dahin. Wenn ich also zum Beispiel beim Vokabeln abfragen feststelle, das mein Sohn unentwegt durch die Gegend hoppelt, zeigt er mir, wie er seine innere Anspannung ausbalancieren kann. Es geschieht intuitiv und ist genau richtig.
Er fühlt sich einer unfreiwilligen Situation ausgesetzt, hatte bestimmt einen anderen Plan und muss es nun aushalten. Mit seiner körperlichen Aktivität verschafft er sich Luft zum atmen und sorgt gleichzeitig dafür, das es ihm besser geht.
Auf diese Art schafft er es unglaublich schnell, sich Wörter einzuprägen. Wenn ihm sein Papa die schwierigen Begriffe humorvoll, als Rapper vorsingt, bleibt nicht nur die Vokabel, sondern gleichzeitig auch noch eine positive Vater-Sohn-Erinnerung in seinem Gehirn hängen.
Eine konsequente Erziehung zu leben ist nicht immer einfach und diese ohne Druck umzusetzen eigentlich fast unmöglich. Ich versuche in meinem aktuellen Mutterdasein eine andere, freiere Art der Erziehung zu leben, als jene, die meine erwachsenen Kinder erfahren mussten.
Und trotzdem verhalte ich mich irgendwie auch wie eine Zahnspange. Letztendlich ist es mein Ziel, unsere Kinder zu anständigen und selbstbewussten Menschen zu erziehen. Und genau dieser Weg dorthin gehört zu den schwierigsten und verantwortungsvollsten Aufgaben, welche wir als Sorgeberechtigten zu bewältigen haben.
Wir ziehen und schieben an ihnen – fangen sie aber auch wieder auf!
Wir pieksen sie – und streicheln es weg!
Wir können verletzend sein – gestehen es ein und trösten sie wieder!
Wir engen sie ein – und lassen sie zu ihrer Selbstfindung wieder los!
Wir üben sanften Druck aus – und entlassen sie wieder in ihre Welt des Spiels!
Wir rauben ihnen mit unserer Erziehung den Nerv – und sie lieben uns trotzdem!
Eigentlich sollten wir ihnen nur ein einziges Gefühl vermitteln:
DU BIST GUT SO WIE DU BIST!
Denn du bist einzigartig und wertvoll!
Vergiss das niemals!