Berührt…

Mein letzter Beitrag – „Ein einziger Augenblick“ – hat nicht nur bei mir Spuren hinterlassen. Wenn ich vor meinem Rechner sitze und in meinen emotionalen Zeitreisen unterwegs bin, denke ich nicht darüber nach, was ich mit meinen Beiträgen auslösen könnte. Gedanken versunken schreibe ich über meine Gefühle und über das, was mich bewegt und berührt.

Ich formuliere meine Einstellung zum Leben und teile mit euch meine Erfahrungen, die mich zu der Frau gemacht haben, die ich heute bin. Ich möchte euch in euren Herzen berühren, möchte euch zum Nachdenken einladen und euch ab und zu erheitern.

Heute möchte ich euch wieder einladen, gemeinsam mit mir meine Erinnerungskiste zu öffnen und euch erzählen, ob und wie es damals mit mir und der Person aus diesem besonderen Augenblick weiter ging.

…Zunächst geschah nichts Aufregendes in meinem Leben. Wenn ich „zunächst“ schreibe, meine ich einen Zeitraum von vier bis fünf Monaten. Neben dem privaten Umzug, stand auch der berufliche Umzug an, denn die Organisation des damaligen Vertriebskanals sollte zufälligerweise vom zentralen Standort in Essen geleitet werden. Also durfte ich nicht nur zu Hause alles in die Kisten verpacken, sondern auch all meine Arbeitsmaterialien in Behälter verstauen.

Unser kleines Reihenhaus vermieteten wir noch im letzten Augenblick an eine kinderreiche Familie, die Motorräder und mein liebstes Gefährt – den Wohnwagen – veräußerten wir ebenfalls schweren Herzens. Auf einen Schlag waren wir unsere Lieblingshobbys los. Ob das eine gute Idee war? Unser damaliger Fokus – wie schon oft erwähnt – War unsere Arbeit, Arbeit, Arbeit…

An folgenden, sonnigen Feierabend kann ich mich besonders gut erinnern, als wir einen dieser seltenen, gemeinsamen Spaziergänge mit unserem Schäfer-Rottweiler-Mischling unternahmen. Ich höre noch heute meinen Ex-Mann zu mir sagen: „Wir müssen echt aufpassen. Wenn wir uns keine Inseln schaffen, wird das früher oder später schief gehen.“

Ich gab ihm Recht, denn gemeinsame Unternehmungen oder banale Aktivitäten, wie Sport passten schon lange nicht mehr in unseren Zeitplan hinein.

Es war schon komisch. Dieses Gespräch führten wir, wie so oft auf einer eher sachlichen Ebene. Beide waren wir uns unserer Situation bewusst, jedoch eine wirkliche Änderung führte keiner von uns herbei. Ich für meinen Teil machte mir einfach keine weiteren Gedanken darüber. Sah ich doch auch keinen Anlass dazu. Uns ging es doch gut. Wir hatten alles, konnten uns einiges leisten und gingen in unseren Jobs völlig auf. Das genügte doch. Zumindest dachte ich das ernsthaft von mir.

Es war Herbst und die ersten Vertriebsstandorte Deutschlands sollten gefeiert werden. Ich durfte mich meiner Lieblingsbeschäftigung widmen und an den Vorbereitungen der ersten gemeinsamen Vertriebstagung mitwirken. Das Projekt „Milchhäuschen“ war mein Baby. Meine Chefs suchten es aus und ich durfte den Rest planen und umsetzen.

Mein Auftrag, die Lokalität aufzusuchen, zu besichtigen und über Räumlichkeiten, Buffet und Musik zu sprechen ließ sich nicht ohne Blasen an meinen Füßen ausführen, habe ich doch einen falschen Weg gewählt, der plötzlich im Wald endete. Nun durfte ich zu Fuß in Pumps und Hosenanzug den Wanderweg hinter mich bringen, um noch rechtzeitig vor Ort sein zu können. Mit meiner Vermutung, das es sich nur um ein kurzes Stück Wegstrecke handelte, lag ich jedenfalls falsch. Nach fünfundvierzig Minuten kam ich kurz vor Schließung des Restaurants an und traf unseren Gesprächspartner an, der mich verwundert ansah, als ich ihm von meinem Fußmarsch erzählte.

Das nächste Mal werde ich die direkte Straße zu diesem ehemaligen Burghof nehmen!“, sagte ich bei der Verabschiedung und begab mich Zähne knirschend bei kühler Abenddämmerung auf denselben Weg zurück, durch den Wald zu meinem Auto.

Einige Wochen später reisten alle Vertriebler ins Maritim Hotel nach Königswinter, um dort das gemeinsame Tagungsprogramm zu absolvieren. Insgeheim waren sich viele von uns jedoch einig darüber, dass wir alle nur auf ein Event hin fieberten: Den Abend der ersten großen Party mit Showeinlagen der jeweiligen Teams, der Karaoke-Veranstaltung, dem leckeren Essen und natürlich auch auf das Angebot von Flüssigkeiten.

Mir bedeutete meine neue Aufgabe sehr viel. Nicht nur die Erfolgserlebnisse ließen mein Herz höher schlagen, sondern auch die zwischenmenschlichen Beziehungen, die wir gegenseitig im Laufe der letzten Monate aufbauen durften, bereicherten mein Leben.

Irgendwie war es für mich wie eine große Familie. Es stießen immer mehr besondere Persönlichkeiten hinzu, denn das hatte mein Chef echt drauf. Er wählte sein Personal nach besonderen Kriterien aus. Jede und jeder Einzelne, die er auswählte, war etwas ganz besonderes auf individuelle Art und Weise.

Jeder brannte für etwas ganz persönliches und bei fast allen konnte er diese besondere Eigenschaft herauskitzeln und für den Verkauf einsetzen. Alle, die ich kennenlernen durfte, trugen ihr Herz am rechten Fleck und genau diese Persönlichkeiten erschufen eine neue, andere Art von Vertrieb – den direkten Vertrieb eben. Nur wenige schienen mir abgehoben. Die meisten standen mit beiden Beinen im Leben und ließen sich nicht von Oberflächlichkeiten beeindrucken. Das imponierte mir sehr.

Und zwischen all diesen motivierten Neueinsteigern tanzte meine schon fast vergessene Begegnung. Da war sie wieder. Meine innere Stimme meldete sich. Dieses Mal klopfte sie jedoch nur sehr dezent an meiner äußeren Hirnhälfte an.

Die Beraterin für Rückmeldungen des schlechten Gewissens tauschte sich unterdessen mit der Kontrolleurin für reale Altersunterschiede aus und beide kamen zu dem Schluss, das ich mich hier in einer anderen Liga befände. Sie schrien mich unmissverständlich an, das ich mich von zehn Jahre jüngeren Herren doch lieber fernhalten solle.

An diesem Abend habe ich ihnen jegliche, weitere Ausführungen verboten und meine Ohren für einen derartigen Austausch fest verschlossen. Meine Feierlaune überwog und ließ mich ausgelassen tanzen, mich das erste Mal am Mikrofon Karaoke ausprobieren und auch ein wenig mehr von dem leckeren Wein trinken, als ich sonst bei Veranstaltungen zu mir nehmen würde.

Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, das ich ihn aus den Augen ließ. Immer wieder beobachtete ich ihn heimlich. Nur den mir sehr vertrauten Kollegen fiel es auf und teilweise schmunzelten sie darüber. Die Tanzfläche füllte sich gewaltig und somit wurde der zur Verfügung stehende Raum sehr knapp.

Wir kamen uns beim Tanzen immer näher und dann wechselte die Musik in die gefährlich, stimmungsvolle Richtung, als wir uns direkt gegenüber standen. Somit forderte er mich zum Paartanz auf und nahm sanft meine Hand, zog mich an sich und ich gab mich dieser Situation hin.

Die beiden, sich in meinem Kopf befindenden Anstandsdamen müssen sich die Hände wund getrommelt haben, so sehr schmerzte mich dieser am nächsten Morge. Ich überhörte sie, denn mein Nervensystem für Gerüche ließ die beiden abermals schweigen.

Er benutzte ein mir sehr bekanntes Eu de toilette. Verdammt! Dieser Duft erinnerte mich an eine heimliche Episode aus meiner Vergangenheit, als ich Anfang zwanzig war. Damit war es nun um mich völlig geschehen. Ich schloss die Augen und war wieder gefangen.

Gefangen in einer von mir provozierten Situation, die ich mit all meinen Sinnen aufnehmen durfte.

Hin und her gerissen löste ich mich von ihm nach dem Ende dieses einen Songs und verabschiedete mich zügig von der Tanzfläche, um mich in der hinteren Ecke des Raumes an den ehemaligen Burgmauern anzulehnen und tief durch zu atmen.

„Oh weh… was tust du hier?“, dachte ich bei mir.

Als ich später mit einem lieben Kollegen aus Hamburg tanzte, erzählte er mir, das er eigentlich nicht mehr mit anderen Frauen tanzen möchte, da er seiner Frau dabei auf magische Weise verfiel und das er dies nie wieder vergessen wird. Gerne würde ich ihn heute fragen, ob er uns beobachtet hatte und es aus diesem Grund erwähnte. Leider ist er bereits verstorben.

Als ich auf der Terrasse ein wenig kühle, frische Luft schnappte, wurde ich meinem Gefühlschaos wieder Herr und merkte sehr schnell, dass es allerhöchste Eisenbahn war, um auf Mineralwasser umzusteigen.

In jener Nacht passierte nichts mehr, außer das ich abermals sehr verwirrt im Aufzug zu meinem Hotelzimmer stand, weil er mit der Truppe noch lachend auf den Ledersesseln der Lobby saß und ich zu gerne noch geblieben wäre. Die beiden Anstandsdamen gaben ihre Beharrlichkeit nicht auf. Sie ärgerten sich sowieso schon über ihre Versäumnisse und schworen sich, das ihnen das nicht mehr passieren wird.

Sie müssen sich wohl am nächsten Morgen beim Frühstücksbuffet kurz weggedreht haben, denn diesen einen magischen Moment verpassten sie völlig. Jenen Augenblick, den ich mir bis heute nicht erklären kann.

Stell dir vor, du befüllst deinen Teller mit deinen gewählten Leckereien und begibst dich zu deinen Sitzplatz. Den jungen Tänzer von gestern hatte ich bisher noch nicht entdeckt. Ich nahm an, er schlief noch. Gerade, als ich Platz nehmen wollte, durchzog mich eine unbeschreibliche Wärme und als ich mich umdrehte, setzte er sich genau schräg hinter mich. Wir berührten uns nicht. Ich konnte ihn nicht sehen. Ich spürte einfach nur seine Nähe.

Das war irgendwie total verrückt und fesselte mich erneut. Als ich mir einen Nachschlag vom Buffet holte, stand er plötzlich unerwartet mir gegenüber, auf der anderen Seite der Glasvitrine. Unsere Blicke berührten sich wieder. Ohne Worte.

Wie auch zwei weitere Male während der Tagung. Keiner von uns beiden unternahm irgend etwas, damit wir uns näher kommen. Und trotzdem brannte die Luft. Ich konnte es mir nicht erklären und anstatt mich damit weiter zu befassen, redete ich mir ständig und immer wieder ,während des Tagesverlaufs ein, dass das hier die größte Fehleinschätzung meiner selbst sei und ich dies doch einfach in meinem Unterbewusstsein beenden werde, bevor es noch zu wirklichen Problemen kommen wird.

Das gelang mir besonders gut in einem Moment, als ich ihn schräg von der Seite, prüfenden Blickes betrachtete und mir einfach immer wieder sagte:

„Was willst du denn von ihm? Er ist definitiv zu jung. Sieh ihn dir doch mal an und wach doch endlich auf!“

Mit dieser Frage in meinem Kopf und mit einem unguten Gefühl in meinem Bauch fuhr ich nach dem Tagungsendezurück in mein Zuhause, ins Ruhrgebiet.

Weit entfernt von weiteren, ungeplanten Begegnungen. Ich wusste immer noch nicht, wie es in ihm aussieht und beruhigte mich mit den Worten, dass ich mir das doch alles nur einbilde….

Als ich für diesen Beitrag im Internet recherchierte und die Fotos der Räumlichkeiten sah, riss es mich förmlich hinein in die einzelnen Szenen – das Tanzen im Milchhäuschen, die Begegnungen in den jeweiligen Tagungsräumen und am Frühstücksbuffet. Alles spielte sich plötzlich vor meinem geistigen Auge ab und ließ mich schweben…

Und animiert mich dazu, weiter zu schreiben. Mehr dazu in meinem nächsten Beitrag…