Ich aß gerade die letzte gefüllte Gabel meines bestellten, köstlichen Kaiserschmarrn, als mein Sohn rief: „Mama – da ist ein Babyvogel! – Hier! Schau doch mal, neben uns auf der Bank!“
Ich konnte es kaum glauben, aber dort saß tatsächlich ein kleiner, nur mit leichtem Flaum bedeckter Jungvogel. Er wirkte verstört und hilflos und hatte echtes Glück im Unglück, denn er fiel auf das Lammfell, welches auf der Nachbarbank lag. Unser Blick nach oben bestätigte es. In etwa acht Meter Höhe befand sich ein Vogelnest auf dem Giebelbalken der Almhütte. Zu hoch, um dieses Vogelküken mal eben einfach wieder zurückzulegen.
Ich sah in die vier flehenden Kinderaugen meiner Söhne und in diesem Moment wurde mir bewusst, das der Rest unseren diesjährigen Urlaub im Allgäu einen neuen Schwerpunkt erhalten würde. Ich ging in den Gastraum der „Berghütte Bärenfalle“, sprach mit der Bedienung und dem Chefkoch, welche mir berichteten, das es bereits das dritte Vogelkind sei, welches in den letzten Tagen hinunter fällt und das sie natürlich keine Zeit hätten, um sich jetzt darum zu kümmern.
Ich erwartete auch keine andere Antwort, verlangte höflich nach einem Kaffeebecher aus Pappe, Servietten und dem dazugehörigen Plastikdeckel, denn schließlich hatten wir in der nächsten Stunde etwas besonderes vor – der Alpsee Coaster wartete auf uns!
Für jenem Donnerstag versprachen wir unseren Jungs eine specialtime mit Papa und Mama. Denn die achttägige, diesjährige Reise nach Oberstorf widmeten wir eigentlich Opa und Oma. Nur dieser eine Vormittag sollte unseren Jungs gehören. Sie freuten sich schon seit Tagen auf das erste Rodeln über die ganzjährig geöffnete Alpsee Rodelbahn, welche mit fast 3.000 m Abfahrtslänge eine Menge Spaß versprach.
Doch plötzlich stand etwas ganz anderes im Mittelpunkt – dieses kleine Vogelbaby, welches die Jungs spontan „Freddy“ nannten. Ich legte den Kaffeebecher mit zerrissenen Serviettenstreifen aus, nahm den kleinen Freddy behutsam in die Hand und setzte ihn in den Becher, während ich zu ihm sagte:
„Gut, das du nicht weißt, was auf dich zurollen wird. Wir werden gleich mit dir rodeln müssen. Wenn du diese Fahrt ins Tal überstehst, dann schaffst du auch den Rest!“
Die lange Wartezeit, in der Schlange von etwa fünfzig rodelbegeisterten Menschen berührte keinen von uns – Dank „Freddy im Becher“.
Es gab nur noch ein Thema. Was frisst er? In solchen Augenblicken schätze ich das Internet sehr. Ich suchte die Rufnummer der nächst gelegenen Tierkosthandlung heraus und erhielt telefonisch alle Antworten noch vor Antritt der Rodelfahrt von einer erfahrenen Fachverkäuferin, welche mir später von ihrer Tätigkeit als Tierartzhelferin einer Vogelaufzuchtstation berichtete. „Besser kann es nicht laufen!“, dachte ich.
Wie transportiere ich ihn nach unten? Den Kaffeebecher steckte ich in meine Bauchtasche, welche ich an die rechte Seite meiner Hüfte schob, damit er von meinem, vor mir sitztenden Sohn nicht zerquetscht würde.
Nun richtete sich die volle Aufmerksamkeit aller Familienmitglieder wieder auf unser eigentliches Vorhaben: Unserem ersten Mal Sommerrodelbahn fahren. Ich kann diese http://www.alpsee-bergwelt.de wirklich empfehlen.
Du fährst etwa drei bis fünf Minuten den Berg hinab und es macht, wie die Jungs meinten: „Voll Bock und Laune!“ Wer zusätzlich im größten Hochseilgarten Bayerns klettern möchte, kann dies dort direkt mit dem erweiterten Ticket umsetzen.
Überhaupt ist das Allgäu an sich ein Landschaftstraum von saftig, grünen Almwiesen und den herausragenden, zweieinhalbtausender Kalkalpen, welche dir bei klarem Wetter die Gipfelaussicht endlos erscheinen lässt. Ich bin jedes Mal, egal ob Winter oder Sommer, wieder völlig geflasht von dem Anblick und könnte diesen, in der Wiese sitzend stundenlang genießen.
Ich wüsste nicht für welche Landschaft ich mich entscheiden sollte, wenn ich zwischen Meer oder Bergen wählen müsste. Beides ist für mich so unglaublich faszinierend, weil ich dem Ursprung unserer Welt und dessen Natur so nahe sein darf und mir wieder bewusst wird, das wir nur ein minimaler Teil davon sind und unsere Zeit endlich ist.
Der Rückweg in Richtung Sonthofen führte uns am Alpsee vorbei, in jenen wir beim aktuellen Sommerwetter am liebsten hinein gesprungen wären. Unser Ziel war jetzt jedoch ein anderes. Besuch beim Tierkostgeschäft, Rückfahrt zur Ferienwohnung an der Fellhornbahn und abwarten, wie „Freddy“ die erste Fütterung mit Pinzette von Hand annimmt, der übrigens die Abfahrt unbeschadet überstanden hatte.
Aus einem leisen Fiepen entwickelte sich in den nächsten Stunden ein kräftig bettelndes Piepen. In den darauf folgenden Tagen lernten wir, das Vögel, im Gegensatz zu Säugetieren, nachts durchschlafen. Dafür möchten sie allerdings stündlich kleinere Mengen an Insekten und Mehlwürmern fressen, was für uns bedeutete, das die nächsten Wanderungen mit „Vogel in Bauchtasche“ durchgeführt wurden und meine Männer immer wieder mal die eine oder andere Fliege fingen.
„Freddy“ äußerte seinen Appetit während unserer Touren regelmäßig und lautstark. Ich werde die überraschten Blicke der Touristen in der Gondel der Bergbahn und deren Gasträume nicht so schnell vergessen. Unser Findelkind hatte ab sofort eine neue Familie, inklusive Großeltern gefunden, welche alle liebevoll für ihn sorgten.
Wie und warum er aus dem Nest gefallen ist, werden wir nicht erfahren, jedoch steht diese Geschichte als Synonym für unsere Familiengeschichte. Und dies ist auch der Grund, warum ich darüber so ausführlich schreibe.
Mein Vater hat in den frühen Fünfzigern, vor dem Bau der Mauer, sein heimatliches Nest verlassen. Nur mit dem Fahrrad und einem einzigen Koffer im Gepäck verließ er seine Familie in Leipzig, um im Westen ein neues Leben zu beginnen. Ich gehe davon aus, das er diese weitreichende Entscheidung letztendlich für sich alleine traf.
Mein Großvater mütterlicherseits fuhr zur See. Sein Versprechen, welches er meiner Oma kurz vor Eheschließung gab, nicht mehr monatelang auf den Meeren unterwegs zu sein, konnte er nicht halten. Es zog ihn immer wieder hinaus in die Welt.
Ich entschied mich ebenfalls als Jugendliche für einen eigenen, selbstständigen Weg und wir gründeten bewusst unsere junge, eigene Familie, mit der ich mehrmals innerhalb Deutschlands umzog.
Meine großen Kinder trieb ich durch meinen bewegten Lebensweg in die frühe Selbstständigkeit. Wenn mich unsere räumliche Trennung auch zutiefst schmerzte, konnten sie sich auf diese Weise zu unglaublich starken Persönlichkeiten entwickeln. Eine wichtige Grundvoraussetzung für ihren weiteren, aufregenden Lebensweg in dieser Welt.
Meine Tochter und ihr Partner setzen sich weltweit als Ozeankind gegen den Plastikmüll ein. Schon als Schülerin interessierte sie sich für die entfernten Inseln und träumte davon, diese zu bereisen. Sie lebt ihren Traum. Das macht mich, trotz tiefer Sehnsucht nach ihrer Nähe, sehr glücklich.
Und was meinen großartigen Sohn angeht, bin ich überzeugt, das ich mich schon heute auf die eine oder andere Überraschung gefasst machen darf. Wer weiß, wo er noch landen wird…
Dieser, heute von mir beschriebener, kleine Vogel ließ durch sein schnelles flügge werden all meine mütterlichen Emotionen fließen
Als Mutter hast du immer wieder dasselbe Gefühl in deinem Herzen. Es wiederholt sich immer wieder aufs Neue. Gegenüber allen Personen und Wesen, die dir nahe stehen.
- Es beginnt mit dem Tag, an dem die kleinen Lieblinge freudestrahlend von dir in unserer Welt begrüßt werden.
- Du liebst sie.
- Du hegst sie.
- Du kümmerst dich.
- Du verlierst dich selbst zum Teil in deiner mütterlichen Aufgabe, denn du stellst deine persönlichen Wünsche und Vorstellungen hinten an.
- Ab und an verzweifelst du daran.
- Dann überwiegen wieder alle schönen Momente und Ereignisse, die dir das Gefühl geben, das es sich lohnt. Denn du siehst sie nicht nur körperlich wachsen, sondern auch in ihrer Persönlichkeit stärker werden.
- Du beginnst damit, sie langsam loszulassen.
- Deine Obhut wechselt mehr und mehr in Beobachtung.
- Deine erzieherischen Anweisungen sind nun häufiger eher Ratschläge, dessen Umsetzung du dir erhoffst, jedoch eine andere Entscheidung von dir auch toleriert werden kann.
- Du lässt sie mit schmerzenden Herzen ziehen und wünschst ihnen alles Glück dieser Welt.
- Und du hoffst, das sie dich in ihrem alltäglichen Tun nicht vergessen werden…
Heute vor einer Woche fuhren wir mit Freddy im Gepäck von Bayern zurück nach Hause. In den letzten Tagen entwickelte er sich prächtig. Wie klein und hilflos er doch noch vor wenigen Tagen in meiner Hand schlummerte.
Schnell lernte er das selbstständige aufpicken von Würmern und trinken aus der Schale. Täglich wuchsen seine Flugkreise. Aus dem anfänglichen zwei Meter Radius entwickelte sich die Erkundung im Garten und gestern Abend zog er ab – über die Hecke, wie unsere Bienen.
Mir war klar, das ich traurig sein würde, wenn dieser Moment eintritt. Aber das es mich so durchschüttelte hätte ich nicht erwartet. Ich saß abends auf unserem Terrassenstuhl und heulte Rotz und Wasser. Es ist doch nur ein Vogel...hörte ich meine innere Stimme sagen. Nein- er steht sinnbildlich für mein Leben.
Es ist wohl meine Bestimmung, mich für andere einzusetzen. Kinder zu erziehen und aus ihnen das bestmögliche herauszuholen, sie zu stärken, zu ermutigen und sie wieder ziehen zu lassen.
Es heißt immer wieder Abschied nehmen. Von den eigenen Kindern, unseren lieb gewonnenen Tageskindern, von Haustieren und von Findelkindern wie unseren Freddy. Mich tröstet es, das ich ihnen allen meine Liebe und Fürsorge geben durfte und freue mich, bestätigend zu beobachten, das sie nun reif sind, um den nächsten Abschnitt alleine zu gehen.
Als ich heute morgen wieder um kurz nach sechs erwachte, hörte ich das mir bekannte Piepen durch das geöffnete Fenster zum Garten. Die letzten Tage fütterte ich unseren Vogel immer um diese Uhrzeit und heute ging ich mit einem, mir bekannten Gefühl der inneren Leere hinunter und schritt hinaus auf die Terrasse, um traurig festzustellen, das er nicht wie sonst in oder auf seinem Käfig saß.
Als ich um die Hausecke zu unseren Bienen sah, flog unser kleines Hausrotschwänzchen über die Hecke in meine Richtung, zog zwei kleine Kreise und setzte sich auf das Bienenhaus.
„Hey, mein kleiner Freund. Du bist ja doch noch mal wieder gekommen! Willst du mir Guten Morgen sagen?“ hörte ich mich mit ihm sprechen.
In diesem Augenblick hüpfte er wieder auf meine, ihm entgegen gestreckte Hand und kurz darauf auf meine Schulter. Für einen kurzen Moment durfte ich ihm wieder ganz nahe sein, bevor er wieder abhob.
Dieser gemischte Gemütszustand von Glück und Trauer – dieses typische lachende und weinende Auge gehören wohl immer wieder zu jenen Abschiedsszenen.
Ich bin glücklich darüber, das unsere Jungs ihn gefunden haben, wir ihn retteten und ihm ein weiteres Leben ermöglichten. Jetzt muss er alleine klar kommen. Und ich bin davon überzeugt, das er es schafft.
Er ist wie wir – ein wenig frech, abenteuerlustig, mutig und lebensfroh und weiß anscheinend genau was er will.
Frei und unbeschwert sein!
Wollen wir das nicht alle in irgend einer Art und Weise?
So sah er aus, als er chillend auf meinem Strandtuch saß und mich beim Garten gießen beobachtete. Ein Tag bevor er sich verabschiedete.
Ach was eine herzige Geschichte. Dank dafüt❣
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ohhh wie schön!!! Ich hab beim Lesen schon Tränen in den Augen gehabt… toll geschrieben und eine wunderbare Anekdote!
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Eine wunderschöne Geschichte! Dir danke ich für das Teilen, und Deinen Jungs gratuliere ich zu so einer tollen Mama. Und allen hier (einschließlich Freddy) viel Glück für die Zukunft.
Liebe Grüße, Werner
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Nicht nur dein Kommentar erfreut mich sehr, sondern auch deine täglichen Weisheiten bereichern meinen Alltag.
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Dankeschön!
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