Der Lottogewinn

Ich starre auf die Anzeige des Lotto Account, während ich die Stimme der Angestellten der Annahmestelle fragen höre: „Möchten Sie nochmal spielen?“ Ihre Worte passten nicht zu dem angezeigten Text, der mir in diesen Moment förmlich ins Gesicht sprang.

Zentralgewinn... bla bla bla“ Der genaue Wortlaut fällt mir nicht mehr ein. Mein Gefühl glich einer Schockstarre. Ich rang nach Luft und gleichzeitig versuchte ich völlig entspannt zu bleiben, denn hinter mir standen weitere Kunden unseres kleinen Wohnort. Währenddessen die Verkäuferin mir die Frage einer Spielwiederholung stellte, zeigte ich mit meinem Finger auf den vor mir angezeigten Displaytext und sagte: „Ähm, hier steht was von einem Zentralgewinn…“

Etwas verunsichert stimmte sie mir zu und erklärte mir die weitere Vorgehensweise, denn übersteigt die Summe die maximale Gewinnhöhe für eine Barauszahlung, greifen spezielle Regelungen. Auf meine Frage, wie hoch denn diese Gewinnsumme sei, antwortete sie, das sie das nicht sehen könne, das jedoch mein Gewinn über der Barauszahlungsgrenze von fünfhundert Euro läge.

Wie durch Watte hörte ich mir herzklopfend ihre Aussagen zum anstehenden Ausfüllen des Zentralgewinnformular an, währenddessen ich am liebsten im Fußboden des damaligen Teeladens versunken wäre, denn eigentlich wollte ich einen reellen Gewinn niemals in der Öffentlichkeit entgegen nehmen und den wenigen, hinter mir stehenden Kunden konnte ich in jenem Moment nicht mal ins Gesicht sehen. Mir war es unangenehm, das ich jetzt mit einem Lottogewinn nach Hause gehen darf und die anderen, hinter mir, vielleicht leer ausgehen würden. Nachdem von uns alle Formalitäten erledigt wurden, verließ ich an einem herrlichen Sommertag jenen kleinen Laden mit dem Fahrrad und fuhr nach Hause. Nein. Ich flog nach Hause.

Dieses Gefühl von Unbeschwertheit und Leichtigkeit kannte ich schon einmal aus meinem alten Leben, als Angehörige eines Expartners ihren Lottogewinn verkündeten, von dem wir etwas erhalten sollten. In jener Nacht erfuhr ich leider auch, welche Auswirkungen derartige Geldsegen auf die mir nahestehenden Mitmenschen haben können und welche mir bis dato noch unbekannte Charaktereigenschaften sich entwickelten. Mein damaliges Seelenleben glich einem kurzzeitig, glücklich schwebenden Steinadler, der durch einen plötzlichen Abschuss strauchelnd zu Boden gezwungen wird. Zumindest half mir jener Augenblick darin, meine naive Grundeinstellung zu manch Angehörigen nochmals bewusst zu überprüfen.

Sollte sich nun der prozentual eher unwahrscheinliche Fall vom großen Lottogewinn wiederholen? Diese Frage stellte ich mir während der sonnigen Heimfahrt. Wie hoch wird die Gewinnsumme sein? Interessant fand ich die ausbleibenden, materiellen Wunschgedanken, welche man sich doch hin und wieder beim Träumen aufruft. Mir fehlten die gedanklich vorbeischwebenden Bilder von schick eingerichteten Villen mit Poolanlagen und großer Einfahrt, auf der diverse Sportwagen parken.

In jenem Moment nahm mich einzig und allein das Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit in Beschlag. Nur ein Gedanke schoss mir durch meinen erhitzten Kopf: Ab sofort dürfen wir entspannt durchatmen. Nun müssen wir uns künftig nicht mehr mit finanziellen Sorgen beschäftigen, denn unser gemeinsamer Neustart ins nächste Leben lag damals noch nicht sehr lange zurück. Wir fingen beide wieder von Null an und arbeiteten hart für unser kleines, neu erschaffenes Reich.

Sollte es das Schicksal nun tatsächlich gut mit uns meinen?

Würde mit dem heutigen Tag die vergangene Ungerechtigkeit ausgeglichen werden?

Mit diesen Gedanken öffnete ich die Haustür, schlich mich zu meinem noch schlafenden Schatz, setzte mich neben ihn und stupste ihn nur mit einem strahlenden Lächeln an. Besonders verrückt fand ich seinen ersten Satz, als sein Blick auf meinen Gesichtsausdruck fiel.

„Du hast im Lotto gewonnen!“ Eigentlich wollte ich ihn langsam darauf vorbereiten. Das ging wohl nach hinten los! Er kennt einfach jede meiner Mimiken. Ihm kann ich nichts – aber auch gar nichts vormachen!

Mein Süßer sprang auf, um mit mir gemeinsam den Gewinncheck im Internet abzurufen. Wir hätten uns damit noch viel Zeit lassen sollen, um gemeinsam noch ein wenig auf dem Höhenflug schweben zu dürfen. Zu schön, traumhaft und unbeschwert fühlte es sich an.

Unsere Neugier überwog. Normalerweise sehen wir uns online die Gewinnzahlen an. An jenem Tag erledigte ich ausnahmsweise die Sichtung per Lottoquittung am Annahmeschalter. Wir tippten unsere Losnummer in die Tastatur und lasen etwas von Sonderziehung.

In jener Woche wurden mehrere Opel Adam ausgeworfen. Ich war enttäuscht, das es nur ein Auto sein sollte und schämte mich gleichzeitig zutiefst, wie undankbar ich doch in diesem Augenblick war. Dieses Gefühl verstärkte sich einige Sekunden später, als ich las, das unsere Losnummer keinen Opel Adam gewann, sondern zu den Einhundert Gewinnen, in Höhe von Eintausend Euro gehörte. RUMS! So schnell kann es gehen.

Wir sahen uns beide an und schämten uns für unsere aufkommende Unzufriedenheit, denn wir wussten beide, das dieser Betrag nur einen Bruchteil unserer damaligen Situation auffing. Und doch versuchten wir es uns schönzureden. „Andere würden sich darüber riesig freuen…“, hörten wir uns gegenseitig murmeln.

Nun ja – das bedeutete für uns, auch wie für Milliarden andere Menschen auf dieser Welt: Weiter arbeiten und Leistung abrufen! Der Wecker hat geklingelt und zeigte uns wieder den normalen Weg auf. Aus der Traum – aus die Maus!

Ich gebe zu, das ich seit jenem Tag so gut wie regelmäßig weitere Lottoscheine abgebe und im Stillen hoffe, das es vielleicht doch irgendwann einmal klappen könnte. Wenn ich auch immer wieder unsicher bin, ob ich es wirklich erleben möchte, so schreit doch dieses unbeschreiblich schöne Gefühl von Leichtigkeit nach Wiederholung.

Auf die Frage, was ich persönlich mit einem großen Gewinn anfangen würde, antworte ich im Alter von achtzehn Jahren:

Ich kaufe mir ein Golf GTI mit „Flimmerlackierung“. Und wenn es ein mächtig großer Gewinn werden sollte, würde ich für meine Freunde und mich die komplette Fertighausausstellung im Frankenland erwerben und jeder dürfte sich eines davon aussuchen. Meine Freunde wären dann auch gleichzeitig meine Nachbarn. Meine kleine, heile Weltvorstellung von damals.

Heute lautet meine Antwort:

Ich würde mir die Zeit nehmen, um Hörsälen verschiedener Universitäten beizuwohnen, würde lesen, würde schreiben, würde malen und musizieren. Ich würde mich ganz besonders um meinen Körper kümmern, Sport treiben, Wellnessbesuche auskosten und mich weiter für unsere Gesundheit einsetzen. Und ich würde alle Ferienzeiten nutzen, um mit meiner Familie die Welt zu bereisen. Ich hätte viel mehr Zeit für all meine Lieblingsbeschäftigungen und könnte mich finanziell für Projekte im Familien- und Freundeskreis einsetzen oder diverse Hilfsprojekte unterstützen. Wenn ich diese Zeilen lese, stelle ich fest, das es sich bei mir hauptsächlich um die Zeit für schöne Beschäftigungen dreht, welche mir aktuell in meiner fünfzig Stunden Woche fehlt.

Gleichzeitig steigt in mir jedoch das ängstliche Gefühl hoch, das sich plötzlich meine Lieblingsmenschen durch einen mächtigen Gewinn verändern könnten und alles anders wird, als man es sich in seiner Traumwelt herbeigesehnt hatte. Und ich hätte Angst davor, das ich selbst auch nicht mehr dieselbe wäre. Und Angst davor, das sich die berühmte Aussage: „Geld verdirbt den Charakter!“ bestätigen könnte.

Außerdem hätte ich Bedenken, ob ein großer Lottogewinn für die Entwicklung unserer Kinder gut wäre. Unsere Kleinen nehmen Vieles heute schon als Selbstverständlichkeit hin, weil sie in dieser kleinen, heilen Welt groß werden. Wie wäre es, wenn wir ihnen noch mehr ihrer Wünsche erfüllen würden?

Sie könnten nur noch in ihrem Sport bewusst erfahren, das sie erst durch ihre Leistungsbereitschaft und mit gesundem Ehrgeiz ihre Ziele erreichen. Nur durch Anstrengung und verschiedene Grenzerfahrungen werden sie im Leben reifer und stärker.

Sie müssen später den Anforderungen der Gesellschaft standhalten können. Verwöhnte, in Watte gepackte Heranwachsende finden sich im heutigen Leistungsdschungel nur schwer zurecht. Wir Eltern können sie nicht ewig auffangen und sollten dies auch nicht tun. Allein um ihrer selbst willen ist es schon wichtig, sie Stück für Stück ziehen und los zu lassen.

Wir freuen uns doch alle viel mehr über selbst erreichte Ziele, ohne Unterstützung von außen. Freuen uns über erfüllte Wünsche nach denen wir uns schon lange sehnten. Für die wir viel Kraft und Energie aufwenden mussten, um sie letztendlich zu verwirklichen. Jene Anschaffungen und Erfolge, welche dir täglich aufzeigen, das es uns gut geht und das wir zufrieden sein dürfen.

Würden nach dem Erhalt eines Lottogewinn unsere bisherigen Ergebnisse und all unserer Mühen an Wert verlieren?

Vielleicht schon. Das können uns nur ehemalige Gewinner berichten.

Letztendlich befindet sich fast jeder Mensch in diesem Modus, nach NOCHMEHR zu streben. Nur wenigen ist es möglich für immer mit dem, was sie besitzen glücklich und zufrieden zu sein. Wenn es keine materiellen Dinge sind, beschäftigen uns immaterielle Ziele, welche uns vorantreiben und letztendlich ist das auch gut so!

Auch wenn uns dieser Zustand manchmal nervt oder beschämt, so ist es doch unser Antrieb, der die Menschheit in ihrer Entwicklung wachsen lies und der uns alle in Bewegung hält.

Ich bin tatsächlich jedes Mal beim Abgleich der Gewinnzahlen hin und hergerissen. Auch hier befinde ich mich wieder einmal ZWISCHENDRIN und im letzten Augenblick der Ziehung denke ich mir:

„Lass uns gewinnen! Aber lass uns nur so viel gewinnen, wie wir es vertragen können! Und lass uns bitte niemals wählen müssen!“

Denn – würde ich wählen müssen zwischen finanziellen Reichtum und Gesundheitszustand oder Frieden, lautete die Antwort immer im letzten Augenblick – lieber doch keine achtzig Millionen.

Was würden dir diese Millionen nützen, wenn du nur noch kurze Zeit zu Leben hättest? Heilen könnten sie dich nicht. Vielleicht das Sterben hinauszögern. Deine Nachkommen hätten etwas davon, sofern du welche hast.

Wäre es ein Segen oder eher ein Fluch? Diese Frage lass ich heute einfach mal so stehen…