„Ich muss mal…“

Kennt ihr das auch? Du befindest dich mit deiner Familie im Urlaubsdomizil und möchtest nun endlich mit dem Frühstück beginnen. Denn die letzte Viertelstunde warst du nur damit beschäftigt, für deine lieben Kleinen alles zusammen zu stellen. „Mami, ich möchte noch Cornflakes – und da – ja – auch noch das Rührei oder doch lieber ein Hörnchen mit Marmelade! Hier ist eine Bratwurst, Mami – die bitte auch. Und trinken….!“

Gemeinsam mit meinem Mann flitzten wir am gefühlten zehn Meter Frühstücksbuffet entlang, jeder mit Tellern bewaffnet und einem Kind im Schlepptau, welches neben dir, am Hosenbein zuppelnd, seine unzähligen Wünsche äußert und du genau weißt, das letztendlich nicht das Kind, sondern du selbst diese Mengen verzehren wirst, um es nicht wieder der Tonne zu überlassen.

Gerade in solch schönen familiären Ausnahmezeiten bin ich besonders harmoniebedürftig. Und was gibt es Schöneres, als den Tag mit einem ausgiebigen, entspannten Frühstück zu beginnen?

Wer mit mehreren Kleinkindern verreist, kann nur in seltenen Fällen von Ruhe und ausgeglichenen Momenten berichten. In jenen Zeiten habe ich mich oft gefragt, warum ich unbedingt zum zweiten Mal eine Familie gründen wollte. Gerade dann, wenn ich das Pärchen am Nebentisch beobachtete, welches scheinbar die Umgebung ausknipste, um sich liebevoll tief in die Augen zu blicken.

Die Kinder hatten nun alles vor sich aufgereiht, um mit dem Essen beginnen zu können. Wenn jetzt noch alles stehen bleibt, kein Saftglas umkippt oder die flakes nicht auf dem Fußboden landen, könnte ich mir jetzt auch meinen Teller zusammenstellen. Frisches Rührei mit Tomaten, Paprika und Gurkenscheiben – dazu ein paar Oliven und eine leckere Scheibe Vollkornbrot. Mhm…lecker. Ich wollte gerade beginnen, als der von uns gehasste Notruf ausgesprochen wurde.

„Mama – ich muss aufs Klo!“

Ich konnte mit Sicherheit davon ausgehen, das dieser Satz von unserem, gerade windelfreiem Sohn immer zum gleichen Zeitpunkt ausgerufen wurde. In jenem Urlaub geschah dies täglich. Und in den darauffolgenden Jahren verstärkt, denn hier mussten zwei kleine Jungs aufs Klo. Es wäre zu schön gewesen, wenn es gleichzeitig passiert wäre. Immer schön versetzt, so das immer einer von uns mit Abwesenheit glänzte um später sein kaltes Ei oder Kaffee einnehmen zu dürfen, denn eine echte „Männersitzung“ dauert auch bei kleinen Jungs seine Zeit.

Nicht selten kam ich megamäßig schlecht gelaunt zum Tisch zurück und der Tag begann alles andere als harmonisch. Heute erinnern wir uns gerne daran zurück und machen uns bewusst, das diese Phasen dazugehören und uns heute diese „Problemchen“ nicht mehr beschäftigen. Heute geht es vielmehr darum, das gemeinsame, ausgedehnte Mahlzeiten doch eher als unnütz empfunden werden, denn man ist doch schon lange satt und hätte doch noch so viele andere Dinge zu erledigen, als sich mit der Familie zu unterhalten. 😉

Ich erwische mich häufig dabei, wie ich Sätze mit „Früher war das…“ beginne. Selbst haben wir es gehasst, wenn diverse Aussagen unserer  Eltern mit diesem Wortlaut anfingen. Meist wurde es genutzt, um Verbote auszusprechen, daran zu erinnern oder diese konsequent durchzusetzen. Ich nutze diesen Satzbeginn, um euch eine kleine Anekdote aus meiner eigenen Kindheit zu erzählen.

Früher, in Zeiten meiner Kindheit gab es keine Aufenthalte in Hotels mit Buffet. Wir verreisten entweder mit dem Zelt, wohnten in Ferienwohnungen oder in kleinen Frühstückspensionen mit Kochgelegenheit. Mir war das völlig egal. Ich kannte es ja nicht anders. Die einzig leidtragende war meine Mutter, welche sich nie an einen gedeckten Tisch setzte. Sie nahm diese Tatsache, wenn auch nicht immer gerne, in Kauf. Denn auf diese Weise konnten wir überhaupt verreisen und ein wenig von der Welt da draußen erfahren. Unsere sechsköpfige Familie wurde über das Einkommen meines Vaters und der Unterstützung unseres im Haus lebenden Großvaters finanziert.

Eine Italienreise, zu sechst, inklusive Opa, in einem VW-Käfer war das Highlight in den Siebzigern. Ich durfte die beste Sitzgelegenheit in diesem Fahrzeug nutzen. Ich lag hinten quer auf dem Schoß meiner Mutter und meiner Geschwister. Der Inhalt unserer Koffer musste spartanisch ausfallen. Jeder erhielt eine, für jede Wetterlage gerechte Ausstattung und „Rei in der Tube“ durfte keinesfalls fehlen.

Hut ab! Wenn ich an meine Packlisten denke, welche ich vor unserem Familienurlaub zusammenstelle, werde ich mir bewusst, das es auch anders geht. Wenn ich Städtetouren als Einzelperson unternehme, fülle auch ich nur einen einzigen Rucksack nach Minimalprinzip. Das Familienpaket sieht immer anders aus, so das mein Mann regelmäßig die Hände über dem Kopf zusammen schlägt. Durch meine langjährigen Campingreisen mit Wohnwagen, war ich, was Stauraum angeht, sehr verwöhnt und zugegebenermaßen mit einem einzigen Koffer restlos überfordert.

Die Geschichte aus der Reise, über welche ich berichten möchte, ist jener Urlaub, den ich nur mit meinem Vater verbringen durfte. Eine meiner schönsten Erinnerungen an ihn und mich. Es ging für wenige Tage auf einen Bauernhof in Bayern. Ein uriger, kleiner Hof mit wenigen verschiedenen Tieren und einer netten Bäuerin – heute sagen wir Landwirtin dazu. Wir wohnten in einem kleinen Zweibettzimmer mit integrierter Waschecke, bestehend aus einem Waschbecken mit Spiegel, welche durch einen Vorhang abgetrennt werden konnte. Eine Gemeinschaftstoilette befand sich draußen auf dem Flur.

Noch heute verbinde ich landwirtschaftliche Gerüche mit schönen Kindheitserfahrungen. Der Duft von getrocknetem Gras versetzt mich in Erinnerungen aus Kuh- oder Pferdeställen. Frisch geharkte, feuchte Erde weckt Bilder meiner Puppennachmittage unterm Indianerzelt in unserem kleinen Garten.

Entdecke ich Grünanlagen auf denen Hecken aus verschiedenen Sträuchern wachsen, versetzen mich diese in die verschiedenen „Mama-Papa-Kind“ Rollenspiele, welche wir unter jenen Büschen spielten. Wir bauten uns darunter die schönsten Wohnungen mit Feuerstelle, Schlaf- und Kinderzimmern. Die Flure wurden mit selbst gebauten Zweigbesen blank gefegt und die Eingänge betraten wir stets vorsichtig, damit unsere Verstecke so lange wie möglich unentdeckt blieben.

Spätestens beim 18.00 Uhr-Läuten der Kirchenglocke mussten wir schnellstens nach Hause flitzen um uns keinen Ärger einzuhandeln. Ich wünschte,  das unsere Kinder dieselben Erfahrungen abspeichern könnten, sehe jedoch ein das ein derartiger Vergleich nicht mehr unbedingt in die heutige Zeit passt. Eigentlich schade….

Zurück zu unserem Urlaub auf dem Bauernhof. Nach dem frühen Erwachen setzten wir uns in den kleinen Frühstücksraum und aßen die frisch gelegten, gekochten Hühnereier. Ich trank eine Kanne der, am selben Morgen, gemolkenen Kuhmilch mit fetter Haut, welche mich auch heute noch nicht stört und wir aßen Brötchen mit Butter aus eigener Herstellung.

An jenem ersten Frühstücksmorgen begab ich mich auf den Weg zur Toilette, welche sich im Erdgeschoss, neben dem Eingang zum Stall befand. Mir eröffnete sich der Anblick einer alten Keramikschüssel mit Holzbrille und einem oben hängenden Spülkasten mit langer Zugkette und Holzgriff. Direkt über dem WC Becken befand sich ein kleines Fenster.

Im Toilettenraum herrschte ein beißender Geruch, welcher mir unmenschlich erschien. Die Türe konnte ich mit einem Schiebeschloss von innen verriegeln. Als ich mein Bedürfnis erledigte, wollte ich den Riegel wieder zurückschieben um die Türe öffnen zu können. Mehrmalige Versuche, diesen kraftvoll nach links zu drücken scheiterten.

„Ich könnte laut rufen oder gegen die Türe trommeln…aber das wäre ja doch irgendwie peinlich!“, dachte ich mir. Diese Blöße wollte ich mir nicht geben. Außerdem hätte mir keiner von außen helfen können ohne etwa die Türe zu beschädigen. Was konnte ich tun? Mein Blick fiel auf das hinter mir liegende Fenster.

Ok. Dann versuche ich dort raus zu klettern. Ich stellte mich auf die Klobrille, öffnete das Fenster, steckte meinen Kopf hinaus und sah den Grund für den beißenden Geruch direkt unter mir. Ein großer Misthaufen befand sich direkt unter dieser kleinen Öffnung. Vorwärts rauskrabbeln wäre nicht so günstig für mich, schoss mir durch meinen etwa zehnjährigen Kopf. Mit den Füßen zuerst schlängelte ich mich durch das Fenster hinaus, direkt auf den Haufen voller Exkremente von Kühen und Schweinen. Ich hüpfte mit großen Sprüngen hindurch um so wenig Spuren wie möglich auf meiner Kleidung zu hinterlassen.

Meinem Vater ist meine Verspätung nicht wirklich aufgefallen. Er unterhielt sich angeregt mit der Hauswirtin und beachtete mich erst nach mehrmaligem anstupsen an seinem Arm. Als er sein Gespräch beendete, erzählte ich ihm von meiner Verzweiflungstat und sagte ihm, das ja nun auch kein anderer das WC nutzen könne.

Das bedeutete für ihn, das er denselben Weg zurücknehmen musste, um das verklemmte, rostige Schloss zu entriegeln. Nur mit dem feinen Unterschied das sein Körperumfang nicht so geschmeidig durch das kleine Fenster passte.

Dieses Bild von ihm, wie er mit den Beinen kurzzeitig zappelnd in der Luke steckte, werde ich nie vergessen. Wir lachen heute noch über diese kleine Episode unserer Zweisamkeit.

Er trainierte mit mir in jenen Tagen das ausdauernde Schwimmen im Moorsee nebenan und pflegte meinen dadurch entstandenen, pickeligen Hautausschlag. Und er weihte mich in die Geräuschkulisse von brünftigem Rotwild ein, als wir kurz vor Sonnenuntergang durch den Wald spazierten. Unvergessliche Erlebnisse, welche nicht alltäglich waren….