Gemeinsam sind wir stark!

Als ich vorgestern zu meinem parkenden Auto eilte, liefen mir diese beiden Senioren über den Weg. Es rührt mich jedesmal, wenn mir ältere Pärchen begegnen, die Händchen haltend oder eingehakt nebeneinander her gehen. Es vermittelt mir das harmonische Bild einer, bis ins hohe Alter, funktionierenden Partnerschaft.

Diese Begegnung passte wunderbar zu meiner aktuellen Stimmung. Herrliche Frühlingstage, wie der gestrige, lassen meine inneren Emotionen explodieren. Ich möchte am liebsten jedem von der Kirschblütenpracht oder anderen verschiedenen Sträuchern erzählen und meine Nase an die frisch blühenden Knospen halten und könnte ständig Blumen einkaufen. Die fehlenden Pflanzgefäße bremsen mein Vorhaben etwas ein. All meine Sinne werden geweckt und der Blick für das immer wiederkehrende Leben geschärft.

Und es lässt mich an einen ganz besonderen Frühlingstag denken. Heute vor acht Jahren konnte ich meine Mama dazu bewegen, ihre kleine Wohnung der Seniorenanlage zu verlassen, um mit mir einen kleinen Ausflug zu unternehmen. Ereignisreiche Wochen lagen hinter ihr, denn ihr Wunsch, in unsere Nähe zu ziehen, erfüllten wir ihr sieben Wochen zuvor.

Meine Freude war riesengroß, als sie mir damals mitteilte, ihren Lebensabend nahe unserer Familie verbringen zu wollen, denn sie lebte bis zu diesem Zeitpunkt in Bayern. Wir steckten all unsere geistige und körperliche Energie in die kurze Vorbereitungszeit, welche uns für die Umsetzung zur Verfügung stand. Wenn es darum geht, einen geeigneten Platz in einer Seniorenwohnanlage zu finden, wird in den meisten Fällen eine spontane Entschlussbereitschaft vorausgesetzt. Wer hier zögerlich reagiert, wird oft lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen.

Spontanität gehört zu meiner Mama, wie die Sahne auf ihre geliebten Eiscreme´s. Als ich ihr berichtete, das eine passende Wohnung im nur fünfhundert Meter Luftlinie entfernten Wohnheim frei wurde, hat sie sofort eingewilligt und wir konnten alles Weitere in die Wege leiten.

Die kleine zwei Zimmer Wohnung mit Balkon in Südostlage war nahezu perfekt für sie, da diese an der äußersten Ecke des Seniorenwohnheim platziert war. Sie konnte vom östlich gelegenen Küchenfenster direkt auf die angrenzenden Reihen- und Mehrfamilienhäuser und den daneben liegenden Spielplatz blicken.

Diese Kompromisslösung versüßte ihr die Tatsache eines Altenheims und gab ihr das Gefühl in eine in Anführungsstrichen, normale Wohnung einzuziehen. Nur der behindertengerechte Eingangsbereich und das Treppenhaus erinnerte an die neuen Lebensumstände. Ihren letzten beiden Enkeln nahe sein zu dürfen, überwog alles.

Kurz vor Ostern zogen wir mit ihren wenigen, aussortierten Gegenständen in ihr neues Zuhause. „Wer hätte gedacht, das ich nochmal in der Nähe meiner alten Heimat leben werde…“ sagte sie zu mir während unserer Fahrt vom Süden in den Osten Deutschlands. Sie wurde in den Dreißigern in Stettin geboren, dessen Wegweiser auf der A9 in Richtung Berlin immer wieder zu lesen sind.

So sehr sie sich auch darüber freute, bei uns zu sein, so sehr schmerzte sie auch ihr Abschied vom alten Lebensumfeld. Als wir losfuhren, weinte sie hinter mir bitterliche Tränen, verbunden mit dem Satz: „Wer weiß, ob ich deine Schwester nochmal wieder sehe…“ Meine Schwester kümmerte sich bis zu diesem Zeitpunkt um sie. Ich denke, das unsere Mama die Entscheidung zum Wohnungswechsel auch zu ihrer Entlastung traf. Gut das unser Kleinster während der Fahrt neben ihr saß. Das lenkte sie schnell von ihrer Traurigkeit ab.

Zurück zu unserem gemeinsamen Ausflugstag. Die am Vortag frisch geschnittenen, gefärbten Haare weckten in ihr ein gutes Lebensgefühl und eine freudige Stimmung, als ich sie morgens mit dem Auto abholte, um ihr unsere Umgebung mit einer Stadtrundfahrt näher zu bringen. Auf dem Weg zum Einwohnermeldeamt fuhren wir an dem Haus vorbei, in dem wir zur Zeit der Geburt meines dritten Kindes lebten.

Irgendwie hatte ich an jenem Tag das drängende Gefühl, ihr alles um sie herum zeigen zu müssen, damit sie einen praktischen Einblick von dem erhält. was ich ihr die vielen letzten Jahre immer nur am Telefon berichten konnte. Da die Änderung ihres Personalausweises anstand, und der damit verbundener Termin beim Fotografen erledigt werden musste, konnte ich das alles miteinander verbinden.

Zur Belohnung schlemmten wir gemeinsam noch einen Becher Eis auf einem schönen Platz in der Sonne, bevor sie sich am Fischverkaufsstand je ein Stück frisch, geräucherten Heilbutt und Aal besorgte. Für diese beiden Fischsorten ließ sie immer alles andere liegen. Sie liebte es einfach!

Bei uns zu Hause angekommen, wurde dieser auch gleich genussvoll verzehrt. Sie sah währenddessen, tief in ihre Gedanken versunken, aus dem Fenster zum Garten. Als ich sie fragte, was sie gerade bewegt, sagte sie zu mir: „Ich kann es mir nicht erklären. Ich fühle mich die ganze Zeit so, als wäre ich im Urlaub.“ Auf meine Frage, ob das jetzt etwas Negatives ist, sagte sie: „Nein. Gar nicht. Aber irgendwie ist es schon komisch -nach sieben Wochen.“

Bevor ich sie in ihr neues Zuhause brachte, stoppten wir beim Supermarkt, um noch einige Lebensmittel für sie einzukaufen. In der Zwischenzeit setzte ein wolkenbruchartiger Regen ein, der einen trockenen Übergang zum parkenden Auto unmöglich werden ließ, zumal meine Mama nicht mehr ganz so zügig laufen konnte. Ziemlich durchgeweicht schlossen wir ihre Wohnungstür auf.

Währenddessen ich alle Einkäufe in ihrer kleinen Küche verstaute, erholte sie sich auf ihrem Lieblingssofa von dem, für sie, doch sehr aufregenden Tag. „Zieh doch bitte noch die nasse Strickjacke aus – Mama!“ bat ich sie, bevor ich nach Hause ging. „Ja. Mach ich gleich. Danke mein Hase.“ rief sie mir von ihrem Sofa aus zu, als ich die Wohnungstür hinter mir schloss.

Leider zog sie sich wohl mit dieser Aktion eine mächtige Erkältung zu, unter der sie die darauf folgenden Tage mächtig litt und welche über das darauf folgende Wochenende zu einer Lungenentzündung mutierte. Unser Hausarzt wies sie, sechs Tage nach unserem Ausflug, mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus ein.

Sie hasste alles, was mit Ärzten und dergleichen zu tun hatte. Leider konnte ich ihr die elendig, langen Wartezeiten auf der Liege der völlig überlasteten Notaufnahme nicht ersparen. Alle dort Diensthabenden Kräfte gaben ihr Bestes, jedoch war der Kapazitätsabbau der Krankenhauslandschaft auch an diesem Tag wieder mal heftigst zu spüren.

Nachdem ich ihre Utensilien für diesen unfreiwilligen Aufenthalt auf ihre Station gebracht hatte, motivierte ich sie, indem ich ihr den in vier Tagen anstehenden Geburtstag ihres jüngsten Enkels schmackhaft machte. Wir alle freuten uns schon sehr darauf, das sie bei der ersten Geburtstagskerze dabei sein würde.

Ihr Enkel mit den wunderschönen braunen Augen, dessen Augen sie an ihren erste große Liebe Alfred erinnerten, von dem sie hin und wieder schmunzelnd erzählte. Dieser, wie sie meinte, durchdringende Blick ihres Enkels, dessen Gedanken sie zu gerne gelesen hätte. Wie sehr hatte er – unser kleiner Mann – sie zum Strahlen gebracht. Und wie sehr hatte sie sich über die wilden Aktionen seines Bruders amüsiert. „Mit den beiden wirst du noch was mitmachen!“, sagte sie zu mir. Wie Recht sie hat!

Am nächsten Tag verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand immens, was ich meinen Schwestern in unseren täglichen Telefonaten mitteilte. Sie konnte kaum mit mir reden. Es strengte sie sehr an. Die mitgebrachten Zeitschriften blieben liegen. An jenem Abend sagte sie mir, das sie ihr eigener Zustand an ihre Oma erinnerte, welche an einer Lungenentzündung verstarb. Meine Sorge war sehr groß, das sich das Familienschicksal wiederholen könnte.

Zwei Tage vor dem anstehenden Geburtstag, besuchte ich sie wieder. Dieses Mal mit meinen beiden Kleinsten im Gepäck. Was freute ich mich, als ich sie auf ihrer Bettkante sitzen sah. Voller Stolz erzählte sie mir, das sie alle nötigen Wege ins Bad selbst erledigen konnte und sogar etwas von dem Mittagessen zu sich nahm. Sie unterhielt sich angeregt mit den beiden Damen ihres Krankenzimmers und ich war zuversichtlich das die Feier doch noch mit ihr stattfinden kann.

Bevor ich die Station wegen meiner quirligen Jungs verlassen musste, half ich ihr noch beim Anziehen. Meine Mum gehört zu der stolzen Generation, welche sich ungerne helfen lässt, sah es jedoch ein, das in diesem Fall vier Hände eher zum Ziel führen als ihre noch kraftlosen zwei Hände. Da ich mir vorstellen konnte, wie sie sich gerade fühlen muss, tröstete ich sie damit, das sie sich doch ein Leben lang um ihre Kinder gekümmert hat und es doch nur selbstverständlich sei, das ich ihr nun etwas unter die Arme greife. Lächelnd stimmte sie mir Kopfnickend zu und ließ mich gewähren.

Mit einem sehr guten Gefühl verließ ich das Krankenhaus und stimmte dem Vorschlag meines (noch) Lebensgefährten, Essen zu gehen zu. Zufrieden blickte ich zu unseren Jungs, die im Leuchten der Abendsonne den Buddelkasten auf der Terrasse der Pizzeria bespielten. Am Ende wird alles gut, dachte ich bei mir. Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende! (Ein Spruch einer lieben Bekannten.)

In diesem Fall erlosch in jener Nacht das Lebenslicht meiner Mutter. Morgens um sechs Uhr klingelte das Telefon. In diesem Moment wusste ich, das dies nichts Erfreuliches bedeuten konnte. „Ihre Mutter ist heute Nacht verstorben. Diese Entwicklung war nicht abzusehen. Das konnte keiner ahnen…“ hörte ich, wie durch Watte gesprochen, die Stimme am anderen Ende sagen.

Ich wollte doch unbedingt dabei sein, wenn es soweit ist! Ich wollte sie nicht alleine gehen lassen!, hörte ich mich sagen. „Sie ist einfach eingeschlafen….“ antwortete die Krankenschwester. Sie ist eingeschlafen. Ich wiederholte diesen Satz gedanklich immer und immer wieder. Sie ließ mich etwa zwei Wochen zuvor wissen, wie sie es sich wünschen würde, zu sterben und welche Bestattungsweise sie möchte. „Einschlafen – und nicht mehr aufwachen. Das wäre das Schönste!“, sagte sie zu mir. Der Wunsch wurde ihr erfüllt.

Diese Tatsache, welche mich noch heute unglaublich hin und her reißt, vernahm ich im Moment des Telefonats sehr nüchtern und sachlich. Ich informierte meine Familienmitglieder, ging zum morgendlichen Badezimmeraufenthalt über, zog mich an und fuhr mit meinem Schatz zu ihr. Vor diesem Augenblick hatte ich mich immer gefürchtet. Es würde meine erste leibliche Begegnung mit dem Tod sein.

Die Krankenschwester führte mich zu ihr. Hier stand ich nun. Alleine. Nur sie und ich in diesem Raum. Friedlich schlafend lag sie da. Nur ihre Gesichtsfarbe ließ einen anderen Zustand vermuten. Draußen herrschte Frühlingswetter mit sommerlichen Temperaturen. Vorsichtig setzte ich mich zu ihr auf die Bettkante, nahm ihre eiskalte Hand und erzählte ihr, was mich in den letzten Tagen berührte und belastete.

Ich erzählte all die Begebenheiten, welche ich ihr vorher aus Rücksichtnahme nicht mitteilte. Sie sollte nicht mit dem Gefühl gehen, das sie der Grund für Missstimmungen in meiner Familie gewesen sein könnte. Ich glaube daran, das noch irgendetwas von unseren Liebsten bei uns bleibt, wenn sie von uns gehen. Was genau und in welcher Form? Das weiß niemand.

Ich gab ihr noch einen letzten Kuss und verließ ihren Körper für immer…

Bevor ich mit ihren persönlichen Dingen das Krankenhaus verließ, besuchte ich nochmals die Damen in ihrem Zimmer. Sie berichteten mir beide von ihrem guten Zustand am gestrigen Abend und das sie sich gut unterhielten.

Da die eine der beiden Damen immer erst spät einschlief, konnte sie mir bestätigen, das unsere Mama ihre Atmung von einem auf den anderen Moment einstellte, indem sie aufhörte zu schnarchen. Nur wusste zu diesem Zeitpunkt keiner, das es sich nicht um die vermutete, geänderte Liegeposition handelte.

Ich bin froh dieses Gespräch geführt zu haben. Es half mir, die vergangenen letzten Stunden ihres Lebens nachvollziehen zu können.

Meine geliebte und einzigartige Mama,

uns wurden wundervolle acht Wochen des Zusammenseins geschenkt. Wertvolle Zeit, die wir nutzten. Schon immer haben wir bis zum Umfallen gequatscht, wenn wir uns besuchten, aber in diesen Wochen konnten wir unzählige Gedanken und Meinungen austauschen.

Meine letzten Wochen des Erziehungsjahr kamen uns sehr entgegen. So konnte ich all deine Wünsche umsetzen und mich auf dich einlassen.

Konnte dich mit deinen Lieblingsgerichten bekochen, dir diese bringen und in dein lächelndes Gesicht blicken, während du wohlwollend geäußert hast, das es so schmeckt, wie bei dir selbst.

Ich durfte mit dir deine alten Schallplatten aus deinen jungen Jahren anhören. Durfte mit dir zum x-ten Male deine Fotoalben ansehen und dir in deine Vergangenheit folgen.

Mit dir stumm vor dem Fernseher sitzen und gemeinsam mit dir in die heile Welt der Rosamunde Pilcher eintauchen.

Durfte mich erfolgreich für dich auf die Suche nach einer Bäckerei begeben, die keine gummiartigen Brötchen anbot, welche ich dir mehrmals zum Frühstück brachte. 😉

Durfte dein fröhliches Lachen beim Anblick deiner Enkel hören und sehe dich heute noch auf jenem Balkon stehen, wie du dich winkend von uns verabschiedet und „Tschüß – meine Süßen! Bis morgen“ gerufen hast.

Und ich bin dankbar dafür, das ich diesen kurzen, letzten Lebensweg mit dir zu Ende gehen durfte. Und letztendlich auch deinen Bestattungswunsch verteidigt und umgesetzt habe. Du wolltest ins Meer. Du wolltest, das sich keiner um dein Grab kümmern muss. Du wolltest zurück an jenen Platz, an dem du nach der Flucht deine Jugendzeit verbringen durftest. Ich bin glücklich das dir dein letzter Wille erfüllt wurde, auch wenn ich mir seitens der Familie mehr Unterstützung gewünscht hätte.

Wie hast du immer so schön gesagt? „Monika? Monika ist anders. Die setzt ihren Kopf durch! Egal was da im Wege steht.“ Wenn du auch diesen Satz in anderen Zusammenhängen benutzt hattest, so war ich es, die mit ihrem Dickschädel deinen letzten Willen verteidigt hat. Für dich! – Mama.

Denn meine Liebe zu dir wird niemals vergehen und ich hoffe sehr, das es stimmt, was uns im Religionsunterricht immer wieder vermittelt wird. Ich hoffe das wir uns eines Tages wieder über den Weg laufen werden. Egal in welcher Form das sein wird. Ich freue mich schon heute darauf. Und bis dahin werde ich mich für die zwischenmenschlichen Beziehungen einsetzen.

Bis irgendwann….deine Jüngste, die dich in Erzählungen und Rezepten weiterleben lässt.

P.S.: Grüße alle da oben, die uns kennen und lieben – Dicken Kuss

In den letzten Wochen schrieb ich einige Briefe über diesen Blog. Diesen (vorerst) letzten Brief wollte ich bewusst am heutigen Tag veröffentlichen. Weil es für mich einer der schönsten Jahrestage ist.

Es war der letzte und einzige Ausflug in unserer kurzen, gemeinsamen Zeit.

Den ersten Geburtstag ihres kleinsten Enkels durfte sie nicht miterleben. Heute werden wir schmerzlich, einen Tag vorher, an ihren Todestag erinnert. Auch ein Jahrestag…

Lieber Leser,

nimm dir immer wieder Zeit für deine Lieblingsmenschen. Nutze sie effektiv. Egal welche Arbeiten und Verpflichtungen anstehen. Versuche jeden Tag zu leben, als wäre es der letzte Tag mit deinen Lieben. Sieh diese Zeit als Geschenk, welches schöner nicht sein kann. Blicke wie ein Kind in die Welt der Natur und entdecke sie aufs Neue. Freue dich daran. Verschiebe Liebkosungen nicht auf später, setze diese sofort in die Tat um.

Redet über eure Wünsche. Lasst dabei die Vorstellung von eurem Lebensabend nicht aus. Haltet euren letzten Willen schriftlich fest, um keine Unklarheiten zu hinterlassen. Und versucht das eintretende Schicksal anzunehmen. Mein größter Trost sind die gemeinsamen Stunden, auf welche ich zurückblicken darf. Lasst euch das von Niemanden nehmen.

Sobald nur noch einer am Ende übrig bleibt, sind WIR gefragt.

Lasst eure Liebsten nicht alleine…

Eure mum and more