„…sieht nicht so gut aus. Ihr abgehendes Fruchtwasser hat bereits eine grüne Verfärbung. Wir müssen jetzt etwas Gas geben! Der angelegte Wehentropf hat nicht viel bewirkt. Spüren Sie bereits einen Pressdrang?“, fragte mich die Beleghebamme. Ich habe keine Ahnung wie sich das anfühlen soll! – Ist meine erste Geburt!, dachte ich mir, in jener Zeit viel zu schüchtern, um diesen Satz offen auszusprechen.
Der diensthabende Arzt wurde hinzugezogen, sah sich die Lage kurz an, wies meinen damals neunzehnjährigen Mann an, sich stützend hinter mich zu stellen, um meinen oberen Rücken nach vorne zu schieben und gab mir die Anweisung zum sofortigen Pressen. Im selben Augenblick legte sich die Hebamme auf meinen Bauch, um mit ihrem Gewicht von oben zu schieben und feuerte mich ebenfalls zum Pressen an.
Ich lag hilflos auf dem Rücken, wie ein Maikäfer, der ohne fremde Hilfe keinerlei Möglichkeit hat, auf die Füße zu kommen und fand diesen Augenblick einfach nur fürchterlich. Von allen Seiten eingezwängt sollte ich nun ganz schnell mein Kind auf die Welt pressen, obwohl ich innerlich doch noch gar nicht so weit war.
Nichts rührte sich. Leichte Panik machte sich im grün gefliesten Kreißsaal breit. Ich hörte nur noch wie der Frauenarzt sagte, das er jetzt nachhelfen müsse. Er legte die Saugglocke an und zu dem oben herrschenden Druck kam noch die mächtige Zugkraft von unten hinzu.
Reflexartig schlug ich, wie eine Stute, mit meinem Bein aus und schob meinen Gynäkologen samt seinem, mit Rollen ausgestatteten Hocker durch den Kreißsaal. Dieser schrie mich sogleich an, das er so nicht arbeiten könne und wir wiederholten den Vorgang zwei weitere Male, bis ein nach rechts verschobenes, rotes, kleines Köpfchen zu sehen war.
Die letzte Presswehe lies mich auf mein kleines Mädchen blicken, welches sofort in Tüchern gewickelt, fortgetragen wurde. „Wir müssen die Kleine untersuchen und nach dem Baden und Anziehen kommen wir wieder.“ hörte ich die Hebamme aus der Ferne der anderen Räume rufen. Jede Mutter kann nachvollziehen, welches Gefühl sich in mir , auf dieser Kreißsaalpritsche liegend, breit machte. Während mein Mann dem weiteren Geschehen beiwohnen durfte, lag ich verunsichert in der Wartestellung, bis ich endlich die erfreuliche Nachricht erhielt, das alle Werte, bis auf minimale Abweichungen, in Ordnung seien.
Mein geliebtes Kind!
Ich war der glücklichste Mensch auf der Welt, als ich am nächsten Morgen in das hübscheste Gesicht blicken durfte, welche Schönheit ich nie zuvor gesehen hatte. Wie ein Püppchen lagst du in deinem Bettchen neben mir. Zu jener Zeit gab es nur in wenig Kliniken die Möglichkeit des nächtlichen Rooming-in. Hatten Babys Hunger, bekamen sie entweder Tee oder wenn du Glück hattest, wurdest du geweckt, um dann schlaftrunken ins Säuglingszimmer zu tappen. Aus heutiger Sicht völlig unvorstellbar.
Du warst mein erstes Mädchen und bist bis heute mein Einziges. Ich vergesse nur manchmal, das aus diesem Mädchen schon lange eine selbstbewusste Frau geworden ist. Also verzeih mir, wenn ich heute meine tiefen Gefühle für dich niederschreibe, die ich dir in unserer gemeinsamen Zeit so gut wie nie offenbart habe.
Du warst ein völlig unkompliziertes Baby und Kleinkind. In der Grundschule eher ruhig, sensibel und zurückhaltend. Hast dich all meinen Lebenslagen angepasst. Was blieb dir auch anderes übrig? Dein Leben begann mit unserer wochenlangen Trennung kurz nach deiner Geburt. Die hilflose Entscheidung meiner Familienmitglieder, mich gegen meinen Willen in die Klinik zu schicken, hinterließ bei uns Wunden, dessen Narben bis heute nur schwer verheilen. Ich erlebte diese Umstände sehr bewusst.
Du hingegen unterbewusst und hattest als Säugling keinerlei Einfluss auf diese Situation. Die ersten Lebenswochen sind so elementar wichtig für das Urvertrauen eines jeden Menschen. Heute wissen wir das alle besser. Mütter, die nach der Geburt ihres Kindes eine Wochenbettdepression oder Ähnliches erleiden, werden nicht mehr einfach so von ihren Kindern getrennt. Diese Erkenntnis ändert jedoch nichts an unserem schmerzlichen Start ins Familienleben.
Mit nicht mal einem Jahr habe ich dich zu einer Tagesmutter gebracht, obwohl mir mein Bauchgefühl sagte, das ich es lieber lassen sollte. Als sehr junge Mama habe ich mich meist von meinem nahen Umfeld beeinflussen lassen. Viele Bedenken meinerseits wurden mit dem Satz: „Es ist halt mal so im Leben!“, beantwortet. Und dann war das eben so. Wenn du mit sechsten heiratest und mit siebzehn dein erstes Kind bekommst, reagiert die gesamte Umwelt skeptisch. Jede meiner Handlungen wurde kontrolliert und kommentiert. Selbst diejenigen, welche selbst keine Kinder hatten, wussten immer alles besser.
Du bist das Mädchen, welches mit etwas über drei Jahren während einem Zeichentrick-Kurzfilm weinte, weil es so traurig darüber war, das der Bernhardiner nach der Rettung eines im Schnee verschütteten Mannes sterben musste. Wie sehr war ich in diesem Augenblick ergriffen von deinem Feingefühl und der Tatsache, das du diese Zusammenhänge ganz genau erkannt hast.
Du bist das Mädchen, welches später, zu meiner allerbesten Freundin wurde und die stolz war, eine so junge Mama an ihrer Seite zu haben. Jedoch habe ich die Grenze unserer „Freundschaft“ mehrmals überschritten. Natürlich darf eine Mutter-Kind Beziehung freundschaftlich sein und das Kind darf auch immer alles erzählen. Das gilt aber nicht umgekehrt. Viel zu spät habe ich erkannt, das ich dich in all meine Erlebnisse mit einbezogen habe.
Du hast das als völlig normal betrachtet und dich darüber gefreut. Wenn es um positive Ereignisse ging, war dieser Vertrauensbeweis auch echt klasse. Wenn es sich jedoch um Probleme und Sorgen des Erwachsenen, sprich mich handelte, warst du dafür die falsche Ansprechpartnerin. All meine Sorgen kompensieren zu müssen, kostete dich deine Energie.
Du bist das Mädchen, welches mir so gut wie nie die Meinung gesagt hat. Du bist das Mädchen, welches mich von Beginn an teilen musste. Zuerst mit deinem Bruder und Jahre später mit meinem zweiten Ehemann, dessen Erziehungseinstellung ich teilte, anstatt dich und deinem Bruder in so manchen Situationen zu verteidigen. Schließlich wollte ich mit ihm an einem Strang ziehen, was in vielen Fällen rein emotional nicht möglich war. Selbst leibliche Elternteile tun sich im Punkto Erziehung schwer, derselben Meinung zu sein.
Du bist das Mädchen, welches mit achtzehn Jahren ihre eigene Wohnung bezogen hat, weil ich aus beruflichen Gründen mit deinem Bruder und deinem Stiefvater einmal quer, auf die andere Seite Deutschlands zog. Auf dich selbst gestellt hast du alles „gewuppt“ und kannst sehr stolz darauf sein.
Als du dein Abitur bestanden hast und deinen Wohnsitz in meiner und in der Nähe deines neuen Freundes beziehen wolltest, krempelte ich mein Leben für die größte Liebe meines Lebens um und entließ dich und deinen noch jüngeren Bruder ins harte Leben da draußen. Das hat euch beide gestärkt und geprägt. Aus euch wurden unglaublich selbstbewusste und einzigartige Menschen auf die ich mächtig stolz bin.
Jedoch zerriss es mir in dieser Zeit mein Herz. Eine Entscheidung zwischen meiner großen Kinder einerseits und meiner neuen Liebesbeziehung, plus Standortwechsel im Beruf andererseits zu fällen, war die schwierigste Entscheidung meines Lebens.
Ich kann das Rad der Zeit nicht zurück drehen. Kann meine Versäumnisse nicht einfach so, mal eben zwischendurch nachholen, wenn wir uns wiedersehen. Kann negative Erlebnisse nicht ausradieren. Kann meine lange zurückliegenden Forderungen an euch, immer perfekt sein zu müssen, nicht zurücknehmen.
Es ist bestimmt nicht leicht damit umzugehen, wenn eure Mama plötzlich ins andere Extrem umschwenkt und jenes, mit Mutterliebe gefüllte Herz einfach ausschüttet.
Ich finde, das es dafür nie zu spät ist! Keiner weiß was morgen sein wird. Wir rennen in unserem Hamsterrad immer schneller und schneller und stellen Gefühle oft hinten an.
Warum schreibe ich das auf?
Weil ich den Zeitpunkt nicht verpassen möchte. Und weil ich heute die richtigen Worte finde. Und weil ich heute nicht vom „Großfamiliengeschehen“ abgelenkt werde, wenn wir uns beim nächsten Besuch wiedersehen.
Und warum über meinen Blog? Weil ich mir sicher bin, das es vielen Menschen so geht und weil ich die Hoffnung hege, das ein paar Wenige sich animieren lassen, ihre noch nicht ausgesprochenen Gefühle mitzuteilen, bevor es zu spät ist.
Mein Kind, ich habe dich nicht vergessen, wie es oben steht, jedoch bist du oft untergegangen im großen Familientrubel. Das wollte ich mit meiner Überschrift ausdrücken. Ich freue mich, dich bald wieder in meine Arme zu schließen. Wenn auch nur für kurze Zeit. Bis dahin schicke ich dir/euch meine Zuneigung über die wunderbare Erfindung – Internet! In diesem Zusammenhang ist es das Beste für mich, weil ich euch über skype oder Videotelefonie sehen kann, wann immer ich möchte. Das Knuddeln hebe ich mir für Später auf. 😉
Ich blicke aufs Meer und fühle mich verbunden – mit meiner verstorbenen Mama und meinen Kindern. Wie schön, das es euch alle für mich gibt.
In Liebe eure Mum
Schön!
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😊
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Ich habe zwar keine Geschwister, aber auch ich war die beste Freundin meiner Mutter, bin es noch heute. Und du hast recht, wir haben auch alles besprochen, ich wurde von kleinauf mit einbezogen in positives wie negatives. Und das hat mich geprägt, mich stark gemacht und mir den größten Teil meiner Kindheit genommen. Mir ging es ähnlich wie deiner Tochter, nur das meine Mama 10 Jahre alter war als ich kam. Als sie in die USA ging war ich 19. es ist eine starke, selbständige Frau aus mir geworden, wie auch aus deiner Tochter. Und ich wünsche mir das ich mal so eine Beziehung zu meiner Tochter haben werde. Viel liebe an euch, Sandy
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Bin beeindruckt von deinen Zeilen. Herzlichen Dank. Das wirst du sicher haben😆
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wundervoll geschrieben
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Das Geschriebene berührt zutiefst.
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😍
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Ach Mama 😍. Völlig unerwartet lese ich diese Zeilen über mich. Über uns. Über unsere Beziehung und Familiengeschichte. Ich habe Tränen in den Augen, nein sie fließen einfach so runter 😅. Das hat mich tief berührt.
Danke, dass Du das sagst und niederschreibst. Es ist nämlich nie zu spät Dinge auszusprechen oder Gefühle mit zu teilen. Auch wenn ich mich mit der „neuen“ Situation anfreunden und erst gewöhnen muss.
Lieb Dich!
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Gerade bin ich auf dem Rückweg von einem wundervollen Mädelswochenende und habe deine Antwort während der Autofahrt auf dem Beifahrersitz gelesen. Ich bin in Freudentränen ausgebrochen und du kannst dir nicht vorstellen, welch großer Stein der Erleichterung mir vom Herzen gefallen ist. Tausend Dank für deine liebevolle Reaktion. Ich freue mich riesig auf unser baldiges Wiedersehen und muss aufpassen dich vor Freude nicht zu erdrücken. 😍
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Ich musste weinen. Auch ich war sehr früh Mutti-Freundin… Es holte das Leben sehr früh herein. Traurigkeit, Ängste und Nähe, Liebe. Traurigkeit und Ängste waren sehr präsent, haben sich sortiert. Die räumliche Nähe ist weg. Die Liebe ist geblieben, wird immer bleiben. Denn sie ist unendlich .
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Wie schön formuliert – die Liebe bleibt. Danke dir
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