Und Ellenbogen sind doch für etwas gut!

Wieso darf ich nicht zu meiner Mama gehen? Immer höre ich ein:

„Nein! Geh zurück! Bleib dort, wo du bist! Kannst du denn nicht hören, was man dir sagt?“

Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, warum hier so eine Aufregung ist! Und vor allem kann ich nicht verstehen, warum ich jetzt nicht auf die andere Seite, zu meiner Mutter, gehen darf. Ach – ich warte einfach ab, bis mich keiner mehr beachtet. Und dann werde ich diesen Moment ausnutzen und loslaufen….“ –  waren meine kindlichen Gedanken in diesem Augenblick.

Es gibt Situationen im Leben, an welche man sich ganz genau erinnern kann. Selbst wenn diese Begebenheit eine Ewigkeit zurückliegt. Kindheitserinnerungen können nicht einfach gelöscht werden. Sie bleiben – für immer!

Ich war etwas über 4 Jahre alt. Es muss ein Wochenende gewesen sein. Mein naturbewusster, sportlicher Vater überredete uns oft zu Wanderausflügen ins mittelfränkische Umland. Dieses geplante Ausflugsziel begeisterte uns jedoch sehr. Der von Nürnberg südlich gelegene, alte Kanal war schon lange Zeit zugefroren und lud zum Schlittschuhlaufen ein.

Dort angekommen probierte ich sofort die mir, mit Lederriemen, angelegten Kufen aus. Zum Erlernen des Bewegungsablaufs war das, für damalige Verhältnisse, eine gute Erfindung. Ich konnte allerdings mit dem Tempo der andern nicht mithalten. Auf diesen Kufen rutschte ich nur langsam meinen Familienmitgliedern hinterher und ich empfand es als sehr anstrengend. Das nervte mich. Mein ständiges Jammern veranlasste meine Familie zu einer Pause an der nächsten Schleuse.

Ich sehe uns, als wäre es gestern gewesen, alle vor der Mauer des Schleuseneingangs stehen. Meine Eltern, meine Geschwister und unsere lieben Nachbarn. Immer, wenn ich den Versuch startete, zu meiner, mir gegenüber stehenden Mutter zu gelangen, hörte ich diese aufgeregten Stimmen. „Bleib da stehen! Du darfst jetzt nicht rüberkommen! Nein! Das geht jetzt nicht!“

Die Erklärungen, warum es nicht möglich war, registrierte ich nicht wirklich. Ich  – der kleine Trotzkopf- habe nur ein NEIN gehört. Die jeweiligen Begründungen interessierten mich anscheinend sehr wenig. Und der eingangs erwähnte Wortlaut, hat sich tatsächlich genauso in meinem Kopf abgespielt. Ich wartete ab, bis niemand zu mir hinüber blickte und lief los.

Nun verlief alles sehr schnell. Nach zwei oder drei Schritten ging es mit mir abwärts. Ich verlor im wahrsten Sinne des Wortes, den Boden unter den Füßen und rutschte durch ein etwa 30 bis 40 cm Durchmesser großes Loch im Eis. Vielleicht wurde sonst jene Öffnung zum Angeln genutzt? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, das ich heute höchstwahrscheinlich nicht hier sitzen würde um für euch diese Erinnerung aufzuschreiben. Denn hätte ich nicht reflexartig meine Ellenbogen ausgefahren und seitlich nach oben gerissen, hätte mein Vater mich nicht wieder herausziehen können. Und somit wäre ich vielleicht unter diese Eisfläche gerutscht und mit dem fließenden Gewässer fort getrieben.

Im Eiltempo zog mir mein Papa meine nassen Klamotten aus, um mich sofort in seine Winterjacke einzupacken und nach Hause zu fahren. Der Schreck saß allen noch lange in den Gliedern und verfolgte uns in manch nächtlichen Träumen. Ich hatte schon immer meinen eigenen Kopf. Dieser Dickschädel brachte mich jedoch in eine wirklich brisante Gefahrensituation.

Bei mir mussten erst Jahrzehnte vergehen, bis ich aus eigener Überzeugung bereit war, auf andere zu hören. Und dieser langwierige Prozess ist noch immer nicht abgeschlossen. Schmunzelnd und ein wenig sorgenvoll blicke ich auf meine eigenen Kinder, welchen ich so manche meiner Charaktereigenschaften mitgegeben habe.

Wenn ich heute diese wunderschönen, winterlichen Landschaften, mit zugefrorenen Gewässern betrachte, erinnere ich mich daran, das ich ohne meine Ellenbogen nicht diese ereignisreiche Vergangenheit erlebt hätte. Es rührt mich sehr und weckt ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit. Meine Ellenbogen auszufahren hat mir in gewisser Weise das Leben gerettet.